Spannungsbögen

Einstein schrieb einst: Kein Problem kann auf der Ebene gelöst werden, auf der es entstanden ist.
Wenn ich mir mein Leben so anschaue, dann ist mir klar, dass jetzt, in diesem Moment, gar kein Problem existiert. Auf der Ebene des Jetzt existieren keine Probleme, auf der Adlerebene auch nicht. Der Adler überfliegt alles von der unteren Wolkenkante und sieht schon von weitem, was auf ihn zukommt oder was unter ihm ist. Nichts davon tangiert ihn wirklich.

Die Alltagsebene, das ist die Ebene, auf der ein großer, verworrener Strickwollenknäul liegt, der weder entwirrt werden kann noch will. Er ist einfach verworren, verstrickt und bunt durcheinander und genau das soll auch so sein. Auf dieser Ebene, beziehungsweise im Knäul verworren, mit ihm verbunden und um ihn herum existieren eine Menge Probleme. Ist ja auch klar, ständig stolpert man über andere Fäden, plötzlich ändert sich die Richtung, die Farbe, ein neuer Knoten taucht auf. Und es scheint unmöglich da irgendwie Ordnung reinzukriegen. Wenn du da jetzt sitzt, mitten in den Strickwollenknäulverwirrungen, einfach mitten drin, langsam atmend und die Wirrungen um dich herum kunstvoll liegen siehst, dann ist all das ein Kunstwerk, was wir Menschen Alltag nennen und alles ist in Ordnung. Wenn du mit deinem Adler drüber hinwegfliegst, dann siehst du einfach ein Strickwollenknäul mit dem ganz regulären Strickwollenknäulleben, genau das, was zu erwarten ist bei so einem Wollknäul. Nichts besonderes, nichts außergewöhnliches. Dann aber steckst du wieder mitten drin, mit der To-Do-Liste in der einen Hand und dem Kaffeebecher in der anderen Hand und kommst weder vor, noch zurück. Und in dem Moment, in dem du völlig verfangen bist in den bunten Fäden deines Alltagswollknäuls, da bist du mitten drin in einem Spannungsbogen.

Für die Autoren und Schreiberlinge unter uns ist so ein Spannungsbogen von enormer Bedeutung. Ohne ihn geht gar nichts, ohne den Spannungsbogen versinkt das ganze Geschreibsel in einem grauen langweiligen Kuchenhaufen. Niemand, nicht einmal der Schreiberling selber würde sein eigenes Geschreibsel ohne einen Spannungsbogen gerne lesen. Einstein wusste das. Und er wusste auch, dass der Spannungsbogen genau die Ebene ist, auf der die Probleme liegen. Und natürlich kann der Spannungsbogen das Problem nicht lösen. Denn auf der Spannungsbogenebene geht es ja UM das Problem. Nicht um die Lösung.
Wisst ihr, manchmal erscheint plötzlich alles so logisch. Oder? Also auf der Spannungsbogenebene, auf der ich gerade bin, kann ich das Problem, in das ich da völlig verstrickt festgesteckt drinstecke nicht lösen. Die Frage ist dann wohl: wie komm ich da jetzt weg? Aus diesen bunten Alltagsstrickwollenknäulverstrickungen?Die Herausforderung ist jetzt die, dass wir bei unseren Alltagsstrickwollenknäulverstrickungen in unserem Repitilienhirnbereich feststecken. Das ist jener Teil des Gehirns, der für unser Überleben zuständig ist. Wenn wir sehr gestresst sind, schalten sich nach und nach alle Teile des Gehirns ab: die für die Schönheit, die für die Logik, die für die Zuwendung und die für die Oxitocin-Zuständigkeit. Übrig bleibt das Überleben. Das war ja vor Urzeiten immens wichtig: wenn da Säbelzahntiger oder andere fremdartige Wesen kamen wollte das Menschwesen überleben, also fuhr das Gehirn in den Überlebensmodus und tat, was getan werden musste: schreien, so laut es geht, weglaufen, so schnell es geht und/oder kämpfen, so hart es geht. Damals, also vor Millionentausendjahren, da ging es häufig um das Überleben. Von uns wäre keiner hier, wenn dieser Teil des Hirns schwächer wäre.
Das Hirn hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt. Es wird größer, bei den meisten Menschen sehr viel leerer und der Überlebensanteil im Hirn ist noch genauso groß und bei den meisten Menschen ständig aktiviert. Wir haben noch andere Teile dazubekommen im Laufe von ein paar Jahrtausenden: zum Beispiel der Teil für logisches Denken ist gewachsen, der Teil für Zuwendung ist gewachsen. Der Teil für Häuslichkeit und Beständigkeit ist gewachsen.
Das Faszinierende ist, dass der Spannungsbogen kurz vor unserem Überlebenshirnanteil liegt. Also ein Spannungsbogen, der sehr spannt, aktiviert vollautomatisch den Überlebenshirnanteil. Dagegen können wir nichts machen, das ist in unserer Evolutionsgeschichte geblieben und obwohl wir das heute nicht mehr auf diese Art und Weise brauchen, funktioniert es aber noch immer genauso gut. Naja, bis auf den Teil, wo das Überlebenshirn wieder ausgeschaltet wird und der Stress nachlässt und wir wieder friedlich grasen können. Irgendwie schafft die Neuzeit das nicht so gut, der Ansturm der Medien zum Beispiel verhindert friedvolles Grasen in Ruhe, und das Leben im Alltagsknäulsowieso verhindert Ruhe ganz allgemein. Ohne Ruhe kein logisches Denken, keine Zuwendung, kein heimeliges Einkuscheln und so.

Stellt euch mal eine Herde Schafe vor. Sie grasen friedlich auf der Weide vor sich hin. Eins da, das andere dort, so ganz verteilt. Auf einmal schleicht ein Wolf um die Ecke. Das Schaf hinten ganz links merkts zu erst. Bämmm…. „Wolf im Anmarsch“ meckert es los und rennt in die Mitte. Alle anderen Schafe meckern mit: „Hilfe, ein Wolf, Hilfe, Hilfe“- und rennen alle zusammen in die Mitte. Wie verrückt rennen sie hin und her und meckern, was das Zeug hält. Der Wolf freut sich und sein Maul wird innen ganz feucht und außen tropfts raus. Er will gerade loshechten, da bellt´s plötzlich. Oh nee, ernsthaft jetzt? Die Schafe haben nen Aufpasshundekämpfer. Und die sind, das hat der Wolf schon gelernt, nicht so freundlich und in denen steckt mehr Kampf, als dem Wolf gut tut. Also verzieht er sich.
Was passiert als nächstes? Ja, richtig. Ruhe kehrt ein. Die Schafe hören auf, wie irre herumzurasen, hören auf zu meckern und nach einer Weile sieht es so aus wie vorher: sie grasen friedlich auf der Weide vor sich hin. Eins da, das andere dort, so ganz verteilt.

Bei (sehr, sehr vielen) Menschen geht das häufig so: Sie alltagen so friedlich vor sich hin mit putzen, anmalen und arbeitengehen. Eins da, das andere dort, so ganz verteilt. Auf einmal schleicht ein Stress um die Ecke (Streit, irgendwas aus den Nachrichten, Viren u.ä.). Das Schaf – *räusper* der Mensch hinten links um die Ecke merkts zu erst. Bämm… „Stress im Anmarsch“ meckerts aus ihm heraus und er rennt herum, im Kreis meistens, also so kreisförmig um seinen Alltagsstrickwollenknäulverstrickungsstress herum. Wie verrückt rennt er da herum und viele andere machen mit. Der Wolf, also der Stress freut sich, sein Maul wird innen ganz feucht und außen tropfts raus. Wie das mit den Alltagswollknäulverstrickungen eben so ist, löst sich plötzlich ein Faden und das Menschlein landet – krach – unsanft auf seinem Popo. Ach menno, denkt der Stress und bleibt stehen. Das nächste Mal kommt gleich bestimmt, für den Moment jedenfalls lässt der Stress und die Spannung nach. Aber der Teil im Hirn, also der Überlebensteil, gibt noch keine Entwarnung. Der ist nämlich, wie bei so vielen Menschen die Bauchspeicheldrüse, außer Kontrolle geraten und piept einfach weiter. Und das Menschlein? Das rappelt sich wieder auf und rennt weiter, kreisförmig um das Alltagsstrickwollenknäul herum und meckert, was das Zeug hält. Und wenn ein Menschlein immer rennt und meckert und meckert und rennt und zwischendurch nur Pause macht, wenn´s auf dem Popo landet, dann wird´s krank. Erst ein bisschen, dann ein bisschen mehr und dann noch ein bisschen mehr.

Es gibt ein Geheimnis, welches längst keins mehr ist: Du kannst dich da aus deinem Alltagsstrickwollknäul herausbeamen. Japp. Oder rauszoomen. Jeder Schreiberling weiß, dass rauszoomen ne tolle Technik ist. Oder einzoomen, je nach Betrachtungsweise. Im Klartext heißt das: die Ebene wechseln. Sobald du die Ebene wechselst, ist Rennen, Wolf und Meckern nämlich überflüssig. Das Tolle daran ist, dass du nun alles anders überblicken kannst, kannst erkennen, an welcher Stelle der Knoten sitzt und dann kannst du ihn auch lösen.
Im alltagstauglichen Klartext heißt das: Wenn du also mitten in diesem Stress herumrennst muss dir das erstmal klarwerden. Das tut es immer an irgendeiner Stelle, keine Sorge. Dann, und ganz besondere dann, darfst du sofort dein logischen Gehirnteil anstellen: tief ein- und ausatmen (Atmung ist DER Schlüssel bei solchem Stress) und die Augen zumachen (Außen für den Moment aussperren, nach Innen fühlen). Und dann vielleicht noch sagen: Ich geh mir mal kurz die Beine vertreten oder sowas – und dann den Ort wechseln. Ja. Genau. Du gehst einfach aus dem Raum raus oder nach draußen oder was auch immer. Wechsel den Ort. An dem anderen Ort angekommen kannst du richtig durchschnaufen und dich dann fragen, und nur das: Wie kann ich den Knoten lösen?
Wenn in deinen Gedanken jetzt Schuldzuweisungen kommen, forget it. Das bringt nichts, außer graue Haare und einen neuen Stresskreis. Wenn in deinen Gedanken jetzt „warumimmerich-Mimis“ auftauchen: forget it. Das bringt noch viel weniger.
Wenn du die Ebene, den Ort verlassen hast, kannst du anders daraufschauen. Frag dich wie du den Knoten löst. Denn in Wirklichkeit geht´s doch nur darum. Und wenn du deinen Fokus dahin richtest, wirst du genau das entschlüsseln. Hier, wie überall auch: Fokus. Der Fokus ist immer der ausschlaggebende Punkt.

Der Spannungsbogen ist für unseren Alltag wichtig. Wie jeder Schreiberling weiß. Und im Grunde genommen sind wir alle Schreiberlinge unseres Lebens. Und unser Leben verliert an Würze und Geschmack, wenn es keine Spannungsbögen mehr gibt. Aber jede Geschichte, egal wie gut sie mal war, verliert einfach alles an und in sich, wenn der Spannungsbogen einfach nie endet. Jeder gute Spannungsbogen hat ein Anfang – und ein ENDE. Und das können wir, mithilfe unseres genialen Gehirns, immer schaffen. Denn unser Gehirn ist, mithilfe unseres Überlebenswillens, darauf aus, zu überleben und wird daher IMMER eine Lösung finden.

Der ultimative Tipp also für diesen Frühling 2024: Erlebe Spannungsbögen. Aber beende sie auch. Und geh dann wieder kuscheln 😉

Hab´s fein. Deine Susa