Himmelstreppe

Auszug aus meinem neuen Buch, was bald erscheint. Viel Spaß beim Reinschnuppern 🙂


Du nimmst den Kompass und legst ihn auf dein Herz. Deine Augen sind noch immer geschlossen und du spürst das Surren des Kompasses, wie er sich dreht, auf deinem Körper. Die Schwingung scheint sich zu übertragen, du fühlst dich plötzlich ganz kribbelig und hibbelig und öffnest die Augen. Weil du so hibbelig bist, drehst du dich halb im Kreis – und da erblickst du sie – die Treppe. Warum ist sie dir eigentlich vorher nicht aufgefallen? Du blickst an ihr hoch. Sie ist genauso weiß, wie der kleine Steinweg, auf dem du bis hierher gegangen bist. Und genauso breit. Vermutlich ist sie dir deshalb nicht aufgefallen, weil der Weg scheinbar in sie übergeht. Sie geht hoch in den Himmel und endet, von hier aus gesehen, in einer Wolke, die sehr weit oben ist. Klare Sache: da geht es hoch. Auf dieser Himmelstreppe. Dir wird schwindelig vom hochschauen. Und ein wenig übel auch.
Da hoch? Wirklich? Du schaust auf den Kompass und auch der zeigt an: da geht´s lang. Du schaust noch einmal die Treppe hoch.
Und nun kannst du noch etwas anderes sehen: helle Lichtwesen, fast durchsichtig, scheinen dort ab der Hälfte auf der Treppe auf dich zu warten. Engel vielleicht? Unwillkürlich lächelst du. Du bist ja bis hierher schon einigen von ihnen begegnet und sie alle waren so wundervoll, dass es tief in deinem Herzen und in deinem Gefühlssystem eingegraben ist. Wie es aussieht bekommst du lichtvolle Begleitung die Treppe hinauf.
Als dein Schatten dich auffordernd die erste Stufe hinaufzieht gehst du vorsichtig hinterher. Nicht hinuntersehen, denkst du noch. Den Kompass an deine Brust gedrückt, dessen leises Surren sich beruhigend auf deinen Körper überträgt, steigst du Stufe für Stufe hinauf, ganz konzentriert auf jeden Schritt. Du bist so konzentriert, dass deine Gedanken verblassen und du für eine Weile an gar nichts denkst, bis das erste Lichtwesen dich lächelnd begrüßt und dir einen Arm um die Schultern legt, was du zwar fühlen, aber körperlich nicht wirklich spüren kannst. Irgendwie leichter geht es nun weiter, Stufe für Stufe. Nicht hinuntersehen, fliegt es da durch deinen Kopf. Du zwingst dich weiterzugehen und richtest dabei deinen Blick stuf auf die Stufen vor dir, bis ihr ein nächstes Lichtwesen erreicht. Dieses flankiert dich auf der anderen Seite und legt seinen Arm um dich und lächelt dich liebevoll an. Deine Beine werden langsam schwerer und du musst dich schon etwas mehr anstrengen.

Deine „Ichwilljetztunbedingtruntergucken-damitichsehenkannwieweitichschongegangenbin“-Gedanken beginnen dich zu quälen. Und das lässt deine Beine etwas langsamer werden – wenn du nach oben schaust, scheinst du noch gar nicht losgegangen zu sein, die Wolke ist so weit weg und du hast sicher noch eine Millionen Stufen vor dir. Wie weit bist du denn jetzt gekommen? Du willst das jetzt wirklich unbedingt wissen, und obwohl ein Teil von dir ganz genau weiß, dass du nicht runterschauen willst, will der andere Teil von dir es doch unbedingt. Wirklich jetzt, unbedingt!! Noch eine, zwei, drei Stufen gewinnt der Teil von dir, der nicht schauen will, der weitergehen will, der sich nach vorn richten will. Deine Beine sind schwer, wirklich schwer.

Auf beiden Seiten von einem hellen Lichtwesen flankiert bleibst du plötzlich stehen. Ja, du wirst jetzt hinuntersehen, du weißt es. Du musst es. Etwas in dir zwingt dich dazu. Etwas, was du nicht magst und was du eigentlich nicht gewinnen lassen willst. Doch – es gewinnt. Tut es das nicht immer?
Du schaust hinunter. Flugzeugweit weg ist die skurille Landschaft mit den grellbunten Bäumen und dem weißen Weg, der an deinen Füßen zu enden scheint. Spontan wird dir sehr schwindelig, du willst dich setzen, besser noch hinlegen. Die beiden Lichtwesen halten dich – und du kannst dich weder setzen noch legen. Was auch besser ist, denn eine spontane Gewichstveränderung hätte unweigerlich zu einem sehr langen Absturz geführt. Du willst deine Augen auf gar keinen Fall zumachen, aber du willst auch nicht mehr hinabsehen. Also starrst du auf deinen Schatten, der wabernd und irgendwie nebeldüster vor dir herumschwelt. Du schluckst die Übelkeit hinunter, die sich um deinen Magen gezurrt hat. Dann schaust du nach oben.
Oben ist so weit weg, wir beim ersten Schritt, unten ist soweit weg, dass dir übel und schwindelig ist und du auf gar keinen Fall mehr dorthin möchtest. Deine Beine sind bleischschwer, dennoch zwingst du dich, einen weiteren, langsamen Schritt zu machen. Und noch einen, und noch einen. Und noch einen. Dein Blick starr nach oben gerichtet, die Übelkeit wegschluckend und alle Gefülhe ignorierend steigst du eine Weile vor dich hin. Immer weiter, und weiter. Doch: oben bleibt immer gleich weit weg. Und wenn du jetzt nach unten sehen würdest, was du aber nicht tust, aber wenn du es würdest, wäre es so weit weg, dass dir erneut schwindelig werden würde.
Weitergehen? Du tust es, weil es ja gar nichts anderes gibt, aber es fühlt sich so fatal sinnlos an, denn oben bleibt weit weg und unten ist nicht erreichbar. Da hängst du zwischen oben und unten in einer Zeitschleife, kommst irgendwie nicht vor, auch nicht zurück.

Inzwischen haben sich einige weitere Lichtwesen zu dir gesellt und du bist mit Licht umgeben. Es ist nicht so, dass du das nicht wahrgenommen hättest, aber es berührt dich jetzt in diesem Moment auch nicht so, wie du dir erhoffen würdest. Du befindest dich in einem Zustand irgendwo zwischen Frustration, dass diese Treppe so lang ist, wie du dir niemals hättest vorstellen können, als du die erste Stufe berührt hast, und einer Form von Angst, dass du nun für fast immer hier auf dieser Treppe gefangen bist, irgendwo zwischen Himmel und Erde und nicht hinauf, aber auch nicht mehr hinunter kommst. Und wie du da diese beiden Gefühle, die sich wirklich gut miteinander verstehen, fühlst, dabei fast stumpf eine Stufe nach der anderen erklimmst, bemerkst du, dass diese Gefühle in dieser Kombination nicht neu für dich sind. Diese Situation ist es durchaus, du kannst dich jedenfalls nicht erinnern, jemals zuvor auf einer überlangen Treppe zwischen Himmel und Erde gewesen zu sein, aber in deinem Leben gab es schon öfter Situationen, in denen du so zwischen den Dingen gehangen hast und dich genauso gefühlt hast: Frustration über die Situation an sich und Angst, dass sie nie mehr weggeht. Dazu das Gefühl nicht zu wissen, was man tun könnte, außer eben einfach so weiterzumachen. Das kann man dann auch eine Weile tun, also weitermachen. Einfach weitermachen. Und manchmal verschwindet die Situation dann auch und eine andere Situation tritt an ihre Stelle. Zurück bleibt nur das Gefühl es nicht geschafft zu haben, es nicht zu „können“.
In solchen Fällen hält unsere Welt uns unfassbar viele Dinge zur Ablenkung bereit – fernsehen, shoppen gehen, was trinken, was essen. Aber hier, auf der Treppe, gibt es gerade keine Ablenkung außer der, die dir deine Gedanken erschaffen können.
Du bleibst wieder stehen, nur die Lichtwesen halten dich davon ab, hinzusinken und deine müden Beine in eine andere Stellung zu bringen. Du hast gerade keinen Drang weiterzugehen. Also stehst du dort, irgendwo an einem unbestimmten Ort zwischen Himmel und Erde und nun? Auf ein Wunder warten, wie man so schön sagt? Einfach weitermachen und die Gedanken dabei auf Ablenkungsreisen in ein wie auch immer gestaltetes positives Kopfkino schicken? Dich einfach fallenlassen und sehen, was passiert?

Da stehst du, schaust vor dich hin und in deinem Kopf geht so allerhand vor sich. Du zählst dir Fakten auf: Du bist bereits so ungefähr dreihundertdreiunddreißigtausenddreihundertdreiunddreißig Stufen gestiegen. Die Lichtwesen schützen dich vor Konsequenzen aus unbedachten Bewegungen, wie es scheint. Der Schatten ist immer vor dir. Dein Weg geht nach oben. Dort wartet vielleicht die Quelle auf dich. Vielleicht auch nicht. Oben ist weit weg, du hast keine Ahnung wie weit weg. Vielleicht für immer weit weg, vielleicht auch nicht. Du hängst zwischen Zeit und Raum. Warum?
Deine Gedanken kreisen um die Frustration. Es frustriert dich hier rumzuhängen, ohne zu wissen, wann du endlich ankommst. Du würdest gerne sehen, wielange es braucht. Du hättest gern eine Abmessung dazu in deinem System. Du lehnst innerlich dieses unbestimmte Gefühl ab, was deinem Nichtwissen entspringt. Dein System braucht dieses „gleich sind wir da“ und weil diese Antwort ausbleibt, bist du frustriert und auch etwas ärgerlich. Eigentlich ja total verständlich. Dein Ego und dein logisches Verständnis brauchen so eine Antwort. Diese Anforderung entspringt deinem Überlebensinstinkt. Ohne das wäre die Menschheit wohl nicht sehr alt geworden und Ackerbau hätte niemals stattgefunden. Es ist völlig in Ordnung, in so einer Situation frustriert zu sein.
Als du es in Ordnung findest, so zu fühlen, wird das Gefühl auf einmal viel, viel kleiner. Es überwiegt nicht mehr so sehr und deine Beine fühlen sich schon ein bisschen freier an. Bleibt noch die Angst, dass du auf ewig hier festhängst und nie wieder irgendwo ankommst. Das ist eigentlich eine unbegründete Angst, denn wenn du weitergehst, wirst du auf jeden Fall irgendwo ankommen. Es dauert vielleicht nur länger, als du dachtest. Und so eine Treppe ist jetzt auch nicht so richtig abwechslungsreich für unseren Geist, eher so eintönig, das weiß in weiß in weiß. Jede Stufe sieht aus wie die Stufe vorher und nach einer Weile verschwimmt im Geist alles zu einer einzigen Masse. Es gibt nicht wirklich viele Orientierungspunkte und es passiert auch nicht viel Neues. Unser Geist mag das, oder? Dass Neues passiert. Deshalb schauen wir ja auch so gerne fern und das Fernsehen an sich hat einen ziemlich großen Suchtfaktor. Denn damit können wir unserem Geist innerhalb von 90 Minuten vorgaukeln, dass ein ganzes Leben vergangen ist. Das geht hier gerade nicht. Du bist auf dich selbst gestellt und auf das, was in dir so los ist. Und das ist halt gerade weiß in weiß in weiß, bestehend aus vielen Stufen und hellen Lichtwesen, die dich halten und begleiten. Die Lichtwesen und ihre Zuversicht und ihr Vertrauen. Auf einmal kannst du es fühlen, diese riesige Zuversicht, die von den Lichtwesen ausgeht. Das war dir vorher gar nicht aufgefallen.
Deine Angst verschwindet und weicht deiner Entschlossenheit und dem erneuten Willen, deine Beine zu bewegen.

Frohgemut schaust du nach oben, bis zum Wolkeneingang ist es nicht mehr weit, sagst du dir und setzt deine Beine in Bewegung.


Wenn dir dieser Auszug gefällt dann sei gespannt auf das Buch 🙂