Gemeinschaft? Sozial? Recht und Pflicht?

Heute morgen haben wir diesen Artikel gelesen:
https://www.welt.de/kultur/plus252211626/Urlaub-mit-behinderten-Kind-Wie-Eltern-sich-in-Drei-Stunden-Schichten-organisieren.html

Wir als pflegende Eltern eines mehrfach schwerbehinderten Kindes mit Lennox-Gastaut-Syndrom sagen an dieser Stelle natürlich: „I feel you“. Wir kennen es, wir fühlen es, wir leben es. Jeden Aspekt davon.

Was nicht nachfühl- und nachvollziehbar ist sind die vielen Kommentare, die beinah schon in die Hate-Richtung gehen. Am besten fand ich: „Jeder ist für sein Lebensrisiko selbst verantwortlich“. Was für eine Erkenntnis! Wenn dir beim Spaziergang eine Taube auf den Kopf kackt oder ein Flugzeugteil aufs Hirn donnert, dann bist du für das Risiko natürlich selbst verantwortlich. Wenn dir ein LKW in die Seite kracht und du dann querschnittgelähmt aufwachst, auch. Klare Sache, oder?! Wenn dein Kind schwerbehindert auf die Welt kommt, aus welchen Gründen auch immer, dann bist du natürlich für das Risiko und die Folgen daraus selbst verantwortlich. Für dein Leben, und übrigens auch für das Leben deines Kindes bis zu einem gewissen Punkt.

Im Leben geht es IMMER um Selbstverantwortung. Du erschaffst dein Leben nach dem, wie du bist. Nach dem, wie du denkst, fühlst und sprichst. Dein Leben ist, was du bist. ABER: du bist keine Insel, oder? Du gehörst in irgendeiner Form zu irgendeiner Gruppe oder Gemeinschaft. Und wenn du Kinder hast, trifft das doppelt und dreifach zu. Und wenn du Kinder hast bist du erst recht keine Insel mehr. Und wenn dein Kind behindert ist, dann wirst du manchmal zu einer Insel, an der nur noch wenige andere Inseln kleben. Nichts vereinsamt besser als einen Angehörigen zu pflegen.

Was ich ziemlich schlimm finde ist die Art und Weise, wie innerhalb der Gemeinschaft „Leser der Welt“ kommentiert wird. Wie sich hier manche selbst ausgrenzen und andere ausgrenzen wollen, die nicht in die konforme und (aus meiner Sicht auch verdrehte) „normale“ Struktur passen. Wer anders ist, wird ausgestoßen. Oder man spult das „Anderssein“ so extrem und irre auf, dass die Genderthematik sogar der Klimathematik vorgezogen wird. Und wenn man nicht dafür ist, dass Milliarden von Steuergeldern für Krieg ausgegeben werden, gehört man auf einmal auch zu einer Randgruppe. Stell dir mal vor du würdest diese Milliarden für die Schulen bereitstellen. Für die Förderschulen. Für echte Integration und funktionierende Behindertenklos. Für echte Empathie in der Gemeinschaft. Stell dir mal vor.

Natürlich kann man nur so „anti“ kommentieren, wenn man mit der Thematik nichts zu tun hat. Kann sich jemand, der niemanden pflegt, vielleicht nichtmal wirklich liebevoll sich selbst, wirklich vorstellen, wie das Leben dann so ist? Nein. Pflegende Angehörige begleitet der Außen-Satz: „das kann ich mir echt nicht vorstellen“ und ruft immer mal wieder so einen leichten Würgereiz hervor. Ich kann mir auch nicht vorstellen wie es ist, wenn der Körper eine krasse Krankheit bildet und ich mit einer schrecklichen Diagnose konfrontiert werde. Ich kann mir auch nicht vorstellen wie es ist, wenn mein Mann Präsident ist. Muss ich ja auch gar nicht. Aber muss ich dann gleich so anti sein und ekelhafte Kommentare von mir geben an Menschen, die so eine Diagnose haben und damit vielleicht erstmal nicht „konform“ umgehen können? Muss ich ekelhaft sein zu den Angehörigen von Präsidenten? Nee, muss ich nicht. Ich hab die Wahl, wie ich darauf zugehe. Ich hab die Wahl mir vorzustellen, wie was wäre, wenn. Ich hab immer die Wahl.

Manche Menschen vergessen, dass Worte Macht sind. Und einen Teil der Gesellschaft wiederspiegeln. In diesem Fall den Teil der Gesellschaft, die kleine Jungs in Rollstühlen böse anschauen, wenn sie mal in den seltenen Fall kommen, einen zu sehen, im Restaurant behinderte Menschen nicht neben sich dulden können und weder wort- noch sicht-bar daran erinnert werden wollen, dass es Kinder und Menschen jeder Altersgruppe gibt, die am sozialen Leben nicht so teilnehmen können wie sie selbst. Die das nicht sehen wollen, dafür nichts übrig haben und ganz ehrlich jetzt? auch noch dafür bezahlen sollen? Das wäre ja die Höhe. Was kann denn ich dafür, dass….

Es geht doch gar nicht darum, dass der Sozialstaat zu irgendwas verpflichtet ist. Es geht nicht darum, dass irgendwer zu irgendwas verpflichtet ist. Fakt ist: wir leben in einer Gemeinschaft. Und die nennt sich Sozialstaat. Und da haben sich die Menschen vor vielen Jahren darauf geeinigt, dass jeder, der von diesem Sozialstaat ein Teil ist, gleich viel wert ist. Ob jung, alt, behindert oder krank. Jeder ist gleich. Jeder hat dieselben Rechte. Auch am sozialen Leben teilhaben zu können. Auch mal Urlaub machen zu können. Auch mal eine Pause zu haben. Jeder. Auch die, die „anti“ schreien. Und auch die, die pflegen. Auch Frauen und auch Männer, sogar behinderte Kinder. Und davon mal abgesehen, dass laut der UN-Kinderrechtskonvention alle Kinder, hört ihr? ALLE Kinder ein naturgegebenes Recht auf Bildung, Gesundheit, Teilhabe und ein sicheres Umfeld haben. Leider, leider (und mein Herz blutet, wenn ich daran denke) gibt es so unendlich viele Kinder, die kein sicheres Umfeld haben, die nicht gesund sind, oder am schlimmsten: die nicht gesund sind UND kein sicheres Umfeld haben. Und dann kommt ihr, ihr „anti“-Schreier und erzählt was von „stellt euch nicht so an“??!! Echt jetzt? Was genau bildet ihr euch eigentlich ein? An welcher Stelle wurde euch die Empathie so grausam völlig exportiert? Ganz ehrlich: ich habe Mitleid mit euch. Einfaches, ehrliches Mitleid. Genau dieses Gefühl, das wir pflegenden Eltern nicht brauchen. Weil wir lieben. Auch wenn wir keine Pause haben. Auch wenn wir manchmal nicht mehr wissen, wie ein noch aus. Wir pflegen und wir lieben. Und manchmal ist es so krass schwer, dass man sich einfach mal jemanden wünscht, der mit anpackt und man zum Beispiel schlafen kann. Nur schlafen. Weil die Nächte mit behinderten Kindern so kurz sein können.

Und wir leben in einer Gemeinschaft, die als Aushängeschild benutzt: wir sind sozial. Wir helfen denen, die benachteiligt sind. Aber wenn man diese Hilfe tatsächlich benötigt, dann ist keiner da. Und es sind einem fünfhunderttausend Steine in den Weg gelegt, dass man am Ende, sollte man es tatsächlich in Angriff nehmen darüber zu klettern, noch müder ist und erst recht schlafen muss. Ich bin immer für Ehrlichkeit. An dieser Stelle ist „Sozialstaat“ mit seinem Aushängeschild wirklich fehlplatziert. Und wir pflegen „erst“ 7 Jahre lang.

Und „pflegen“ heißt bei uns: 24/7 verschiedenste Aufgaben. Diverse Körperpflege, viel, sehr viel aufpassen und Nähe teilen, auf verschiedenste Weise Nahrung und Medikamente zuführen, trösten, bewegen, ein bisschen bespaßen, immer wieder Ortswechsel und alles wieder von vorn. Tagsüber – und nachts. Und wir haben noch 2 andere Kinder, die auch ein wenig Zeit abhaben wollen. Und wir haben noch uns als Paar und zum Schluss noch uns als Mensch, die auch ein wenig Zeit abhaben wollen. Und mehr als Mögliches können auch wir nicht tun.

Also: lieber „Anti“-Schreier. Komm gerne mal vorbei. Und beteilige dich an der Pflege. Sagen wir für drei Tage. Mal sehen, ob du danach noch die Luft hast weiter „anti“ zu schreien. Ich garantiere dir eher, dass du zu müde dazu bist. Und dir die Lust dazu vergangen ist. Wer weiß, vielleicht gründest du auch die Partei, die dringend nötig ist, damit die vielen Steuergelder aus diesem Land für etwas benutzt werden, was IN diesem Land nötig wäre.

In dem Sinne – euch allen einen schönen „barrierefreien“ Urlaub!