Das sind wir

Gemütlich schwer und leise leicht bewegen sich die Räder. Die zwei Kleinen vorn, die zwei Großen hinten. Die einzelnen Speichen ergeben bei der Bewegung eine nebulöse Platte, die vom Schatten nicht abgebildet wird. Links neben uns begleitet uns unser Schatten, der weder Gesichtsausdruck noch Gefühle, weder Details noch Löcher kennt. Er zeigt nur die halbe Realität, aber er weicht uns niemals von der Seite. Er ist immer mit von der Partie, so wie der Alltag, die Zeit und mein ewig plappernder Kopf. Im Gegensatz zum Alltag oder der Zeit denken wir über unseren Schatten selten nach. Er ist da, angewachsen, umrundet uns im Laufe des Tages und zeigt mal unser Profil, mal können wir ihn nicht sehen und er geht uns standhaft aus dem Weg.

Heute ist ein guter Tag. Die Luft ist frisch, eine leichte Brise spielt mit unserem Haar und der kleine Zauberer gluckst mit seinem Tuch im Mund vor sich hin. Ein Lächeln liegt auf meinem Gesicht. Die Falten, die sich in den letzten Jahren links und rechts vom Mundwinkel eingegraben haben sind nicht immer vom Lächeln eingeschliffen worden. Die Falte, die zwischen den Augenbrauen entstanden ist, wird vom Lächeln vertrieben. Menschen sind so schön, wenn sie lächeln. Warum lächeln wir so selten? Wir müssten uns viel weniger Gedanken um unsere Falten machen würden wir öfter lächeln. Lächeln ist wie Sonnenschein, das aus dem Gesicht eines Menschen leuchtet. Ich nehme mir vor, öfter zu lächeln. Es erhellt nicht nur mein Gesicht, sondern auch mein Mikrokosmos um mich herum. Und meinen kleinen Zauberer bringt es zum Glucksen. Na ja, ein bisschen jedenfalls, bilde ich mir ein. Dass die große Sonne oben am Himmel strahlt, es angenehme 21°C sind und wir am Deich spazieren gehen, wird sicher ein Übriges dazu tun.

Die Urlauber sind noch nicht angereist und ich bin mit meinem kleinen Zauberer fast die einzige Spaziergängerin hier am Ufer. Ich genieße die traute Zweisamkeit mit ihm, die beiden anderen Kinder sind in der Schule und mein Mann versteckt zwischen all seiner Arbeit. Es tut so gut. Einfach mal den Alltag in seiner gewohnten Schleife zu verlassen und was anders zu machen als sonst. Einfach mal mit dem kleinen Zauberer spazieren zu gehen. Einfach so. Und die To-Do´s dabei warten lassen und im Kalender verschieben.

Der kleine Zauberer ist mein Lehrer. Er ist mein schwerbehinderter Sohn, der nicht sprechen oder laufen kann, der immer wieder mit schweren oder leichteren Krämpfen durchgeschüttelt wird und der seine Liebe um sich herum verteilt, wie eine Blume, die nicht zur Mistfliege sagt: „Och nö, du gefällst mir aber nicht, da verstecke ich mal meinen süßen Nektar vor dir.“ Eine Blume, die ihren wundervollen Duft einfach verströmt, ihren Nektar liebevoll mit jedem Wesen teilt, das danach fragt. Dieser kleine Zauberer ist ein Heiler, ein Lehrer und ein Wesen so voller Liebe, das es mich immer wieder rührt, ganz tief in meinem Herzen.

Einen kleinen Zauberer zu Hause zu haben ist heilsam und erschafft eine neue Welt. Ein neues Leben. Ein neues Tempo und manchmal hält er einfach die Zeit an. Einen kleinen Zauberer zu Hause zu haben erschafft ganz neue Gedanken und an manchen Tagen eine Schwere, die sich wie ein schwerer Ast auf alle Klaviertasten gleichzeitig fallen lässt. Das Wort „Kompromissbereitschaft“, das Wort „Zugewandtheit“, das Wort „Pflege“, das Wort „Leben“ – all diese Worte bekommen mit einem kleinen Zauberer eine ganz andere Bedeutung. Eine Bedeutung, von der man vorher nichts wusste, die in keinem Lexikon zu finden ist und die nur zu dem Wir mit einem kleinen Zauberer passt.

Ich betätige die zwei Bremshebel an den großen Reifen und hocke ich neben den Rollstuhl. Die zwei Schatten links neben uns verschmelzen ineinander, an den Rädern des Rollstuhls mit dem Rest verbunden. Wir schauen auf das Meer, das in gleichmäßigen Wellen mit einem leisen Platschen an das Ufer rollt. Es ist Hochwasser und auf den kleinen Wellen entstehen immer wieder weiße Schaumkronen, die sich dann gleich wieder auflösen. Ein Auf und Ab, ein Hin und Her, das zu beobachten in einen meditativen Zustand bringt. Gemeinsam mit dem Schatten versinken wir in diesen Zustand. Fühlen die Sonne auf uns, den Wind um uns und lösen uns auf in dem unendlich gleichen Auf und Ab, Hin und Her der Wellen. Ich wache aus meiner Trance auf, als der Kopf meines kleineren Zauberers nach vorn fällt. Er ist eingeschlafen. Ich freue mich. Denn die Nacht war so kurz und in der frischen Meeresbrise einen Powernap zu genießen ist die beste Idee des Tages. Vorsichtig löse ich die Bremsen und schiebe den Rollstuhl neben eine der Bänke, die hier stehen. So können wir beide ein bisschen dösen – der kleine Zauberer in seinem mitgebrachten Stuhl und ich auf der Bank. Der Alltag hat uns dann immer noch früh genug zurück. Mit all dem Chaos, den lauten und leisen Tönen, den Aufgaben und der manchmal fehlenden Disziplin und darauf folgenden Konsequenzen.

Welchen Schatten wirft eigentlich unser Alltag? Natürlich vorausgesetzt, dass der Alltag eine körperliche Form hätte. Wie würde seine körperliche Form aussehen? Ich entscheide mich dafür, dass der Alltag aussehen würde wie ein Elefant. Groß, stark, mit einem langen Rüssel, mit dem er auch mal was greift, was er vorher nicht angmeldet hat. Ein vielleicht etwas schusseliger Elefant, der auch mal einfach auf ein feines Etwas tritt, das dann unter seinen großen Füßen und seinem schwerem Gewicht zu Pulver zermahlen wird. Ein Elefant, dessen dicke Haut alles aushält und der immer freundlich ist, auch wenn man selbst gar keinen so freundlichen Tag hat. Ein Elefant, der einem nicht von der Seite weicht, solange man nicht die Masseträgheit überwindet und in Überlichtgeschwindigkeit mal eben zur Seite prescht. So wie wir heute. Wir sind einfach losgefahren. Ans Meer. Ohne die Aufgaben mitzunehmen. Ich weiß nicht, ob der Alltag jetzt böse auf mich ist. Eins steht fest: Ich komme wieder. Und wenn ich das nicht täte, würde er in meine Richtung reisen und hätte mich dann doch wieder irgendwann eingeholt. Das Phänomen kann ich in jedem Urlaub beobachten. Der Elefant Alltag hängt wie an einer langen Schnur an mir fest und findet mich, egal wo ich bin. Auf ihn ist einfach immer Verlass.

Und der Schatten eines Elefanten ist ziemlich groß. Und wenn man dann in seinem Schatten seinen Aufenthalt findet, wird es kühl. Und fast ein bisschen dunkel. Auf eine Art, dass man die Sonnenbrille abnehmen muss und seine Strickjacke auspackt. Der Alltag, unser Alltag, ist an unserem Wir angekoppelt und sein Schatten ist mit unseren Schatten verschmolzen. Selbst dann, wenn wir die Masseträgheit dann und wann überwinden, bleiben die Schatten miteinander verschmolzen und finden sich immer wieder. Unser Alltag, der aus vielen Pampers, manchen grauen Haaren, weniger Lachen, Buntstiften, Buchstaben und nassen Putzlappen besteht. Aus Krümeln, süß und salzig, Pferdeäpfeln und Kriechöl, Holzgeruch und Tastenklappern, Tanken und erdigen Fingern. Unser Alltag, der manchmal langsam ist und manchmal schneller, dessen Terminkalender manchmal sehr voll und manchmal fast leer ist. Mit einem kleinen Zauberer ist Planung eine Ballerina, die frei nach Intuition tanzt und keine feste Choreographie kennt. Manchmal kann sie den nächsten Schritt schon erahnen, aber dann wieder auch nicht. Leben ohne Choreographie ist etwas, was meiner inneren Masseträgheit häufig entgegenläuft. Dann raufe ich meine Haare, die dadurch nur grauer werden und durch den Farbwechsel eine andere Masseträgheit gewinnen, was die Frisurenfindung erneuert und den Schatten verändert. Veränderung – der kleine Zauber hat auch diesem Wort eine völlig andere Bedeutung zugeordnet und an den Elefanten weitergeleitet, der gleich seinen langen Rüssel benutzte um damit alles auf den Kopf zu stellen. Er nahm die Füße des Wortes und drehte sie in Richtung der Wolken. Wenn ihm das so nicht gefällt, schnappt er sich Veränderung und dreht sie zu einer anderen Seite.

So sind wir ein lebendes, atmendes Wir in ständiger Bewegung – wie die Wellen, die an das Ufer platschen. Jede Welle ist anders, keine Schaumkrone gleicht der davor. Und dennoch geht es Auf und Ab, Hin und Her in einem Gleichklang, der in eine Trance führt, wenn man sich hineinfallen lässt.

Ich glaube, ein Wir ist ein eigenes Wesen, so wie der Alltag, in dessen Schatten unser Wir bequem abkühlen kann. Und es besteht aus den einzelnen Teilen von uns. Den groben Anteilen, die vom Schatten langgezogen werden, den Details, die manchmal in der prallen Sonne einen kleinen Schatten werfen und den veränderlichen Anteilen, die täglich angepasst werden und hier und da sogar wachsen. Das Ganze ist ja immer mehr als die Summe seiner Teile. Denn tatsächlich treten in diesem Wesen Wir immer wieder neue Phänomene auf, die auf der Ebene der einzelnen Teile nicht vorhersehbar waren und die sogar den Elefanten Alltag durchrütteln können, dass der lange Rüssel nur so schlackert.

Kann das denn sein, fragst du. Um die Wahrheit zu sagen: Das weiß ich nicht so genau. Ich halte es da mit den Physikern: Alles ist möglich. Und in einem Wir sowieso. In unserem Wir schon überhaupt. Ein Wir ist wie ein Orchester, oder? Jedes einzelne Instrument klingt auf eine bestimmte Art und Weise – eben so, wie es klingt. Wunderschön und so. Aber zusammen erklingt eine ganz andere Harmonie, und manchmal klingt es so, dass der Schatten vom Elefanten schrumpft und alle wieder ihre Sonnenbrillen aus- und ihre Strickjacken einpacken. Es stimmt schon – wenn jedes Instrument im Orchester einfach mal seine eigene Melodie spielt, dann ist das ziemlich chaotisch und klingt nach Ohrenschützerbenutzen. Und wie wir alle wissen, dehnt sich Entropie schon ganz von selbst aus. Aber wenn dann alle zusammen spielen, alle zusammen an einem Stück, dann erklingt etwas, was das einzelne Instrument nicht schaffen kann.

Ein Wir ist wie ein großer Baum. Du bist die Wurzeln, ich ein Ast, du bist die Blätter – zusammen sind wir ein großes lebendes, verwebtes System, das ohne den jeweils anderen nicht so richtig existent wäre.

Wir – mit unserem kleinen Zauberer, wir, mit dir und mir – wir sind das Familienorchester mit unserem Elefanten, der uns begleitet, und unseren Details, die manchmal unsichtbar bleiben, mit unseren Schatten, die sich im Tagesgeschehen hinter uns verstecken und unserer Masseträgheit, die für das Wir eine größere Summe ergibt als für das einzelne Teil und nur mit gemeinsamer Wir-Orchesterkraft überwunden werden kann, um vom Elefanten einen kurzen Moment Abstand zu gewinnen.

Wir – das an einem schönen Tag wie heute die morgendlichen Nebelschwaden in den Boden pustet, den Alltag umarmt und mit ihm gemeinsam in den Mittag reitet, Wir, das über all die Pampersberge klettert und mit Buntstiften um die Wette leuchtet. Und Wir, das über das Schlackern des Elefantenrüssels laut lachen muss, wenn mal wieder ein neues Orchesterphänomen alles in eine andere Himmelsrichtung dreht.

Das sind wir.