Ich habe doch keine Zeit!

„Wir haben doch keine Zeit!“ Diesen Satz habe ich in genau dieser Wortanordnung das erste Mal vor etwa 27 Jahren gehört. Damals hat ihn Stefan Raab in seiner Sendung immer und immer wieder wiederholt. Diese Redundanz hat sich tatsächlich in meinem Kopf eingebrannt. In den späteren Jahren hab ich weniger an die Sendung gedacht oder an die Wortanordnung, aber ich habe häufig genauso gelebt: Ich habe doch keine Zeit!

Das mit der Zeit ist so eine Sache, oder? Die vierte Dimension, die wir so schwer greifen können, die für uns rein linear aussieht (jedenfalls für das für uns greifbare Gedächtnis), über die so manche Bücher und Meinungen und Theorien existiert. Mir gefällt, dass sie in der deutschen Sprache die weibliche Form hat. Wundervoll.

Wie würde die Zeit wohl aussehen, wenn sie eine Form hätte? Suchen wir mal ein paar gefühlte „Fakten“ zusammen und schauen mal, was dabei herauskommt.

Die Zeit bedient unser Gefühl. Das heißt, wenn ich warte vergeht sie sehr langsam und wenn ich mich freue vergeht sie sehr schnell. Sie mag es also, Dinge zu verdrehen, wenn es um menschlich gefühlten Genuss geht. Sie hat also so einen verschmitzten, verwegenen Blick und strubbeliges Haar. Die Zeit ist schon sehr, sehr alt, vielleicht schon älter, als unsere Dimension hier. Damit wäre sie so im mittleren Alter, faltenfrei und das Haar wäre dennoch ungefärbt schlohweiß. Sie steht nie still und hat immer was zu tun, also ist sie sehr schlank. Ihre Kleidung wäre vermutlich praktisch, mit vielen Taschen für all ihre Geräte, die sie so dabei hat. Sie würde bestimmt eine Fliegerbrille tragen, falls ein Mensch schneller als die Zeit sein möchte, damit sie ihn begleiten kann. Sie trägt ganz ganz sicher einen geschmückten Zylinder, einfach weil das super stylisch ist. Und natürlich einen Schwalbenschwanz aus braunem Leder, die Bluse ist eine weiße Rüschenbluse und es steckt eine Blume im zweitobersten Knopfloch. Ein Gänseblümchen, ich bin ganz sicher. Die sind nämlich genauso aus der Zeit gefallen wie sie selbst. An einer Hand trägt sie einen Handschuh und an der anderen hat sie zwei Ringe: einen Siegelring am Daumen, geerbt von Vater Kosmos und einen feinen Diamantring am Ringfinger. Denn sie ist verlobt.

Eine schöne junge Frau also, die sich uns da zeigt. Ich hab mal nach einem Bild gegoogelt und das gefunden, was ihr am Anfang sehen könnt. Es. passt zwar nicht so 100%, aber kommt dem schon irgendwie nah (davon abgesehen, dass ich schon seit Jahren unbedingt so ein tolles Steampunk-Kostüm haben möchte 😉 )

Die schönsten Dinge auf dieser Mutter Erde sind doch auch meistens die, die irgendwie aus der Zeit gefallen sind, oder? Für mich gehören Gänseblümchen dazu. Sie blühen überall, das ganze Jahr über. Sie sehen so hübsch aus und sind dabei klein, aber robust, unfassbar hübsch und für viele Menschen so unscheinbar, dass sie sie einfach zertreten und gar nicht wahrnehmen. So wie sie auch die Zeit kaum wahrnehmen und sie einfach, wie die Luft, wegatmen ohne je darüber nachzudenken.

Ich will hier jetzt tatsächlich gar nicht weiter auf das Phänomen eingehen über die Zeit nachzudenken (auch wenn mein geneigter Leser dies durchaus annehmen könnte). Ich will über unser Gefühl sprechen, was fast täglich in irgendeinem Kontext ruft:

Ich habe doch keine Zeit!

Wie kommt das, das wir ständig denken wir hätten keine Zeit? Wie kommt es, dass so viele Affirmationen dazu in unserem Sprachgebrauch herumgeistern? Die Zeit läuft dir davon oder Zeit ist Geld oder Mach schneller, dann hast du mehr Zeit, wenn du dich jetzt beeilst hast du mehr Zeit für usw.usw. Ich kann jede einzelne dieser Sätze (mit Absicht genannt: Affirmation) widerlegen. Ich habe in meinem Leben nämlich schon so oft erlebt, dass, wenn ich jemandem Zeit gebe, ich selbst dadurch mehr Zeit habe. Ich habe erlebt, dass auf etwas zu Warten ein Segen sein kann, wenn ich es mit etwas anderem verbinde oder es als heilbringende Pause verbuche. Ich habe gelernt, dass etwas zu beschleunigen oder sich zu beeilen den Puls hochschraubt, Stress im Körper erzeugt und ansonsten keine weiteren Mitbringsel hat.

Wir leben im Moment in einer Welt, in der es viele „Hilfsmittel“ gibt, die bestimmte Dinge beschleunigen. Wäsche waschen zum Beispiel: ich stecke dreckige Wäsche in den Waschautomaten, füge diverse Dinge hinzu und nun kann ich warten: so etwa 90 Minuten oder länger. Vor einigen Jahren hätte ich mit diesem Paket Wäsche zum Waschplatz an der Medem gehen müssen und dort mit Waschbrett, Kernseife und Bürste 2 Stunden hart arbeiten müssen. Kein Wunder, dass die Kinder damals nicht jeden Tag umgezogen wurden und es nicht alle zwei Tage ein Vollbad gab.

Doch: habe ich denn jetzt 2 Stunden Zeit „gewonnen“ durch das Hilfsmittel Waschmaschine? Wohl eher nicht. Denn ich werde in diesen zwei Stunden noch sehr viele Dinge tun und dazu werde ich sehr häufig Hilfsmittel benutzen. Eigentlich die ganze Zeit: die Kaffeemaschine, die vollautomatisch die Kaffeebohnen mahlt, die Spülmaschine, die mein Geschirr abwäscht, das Radio, dass mir schon vorgefertigte Musik von der Stange liefert. Und last but not least das kleine Gerät hier, das gerade auf meinem Schoß liegt: ein Laptop, mit dem ich dann schreiben kann, Nachrichten lesen oder schauen, Musik hören, einen Kurs machen oder selbst einen erstellen.

Und was passiert, wenn eines meiner Hilfsmittel in die ewigen Jagdgründe übergeht? Tja, dann bin ich ziemlich aufgeschmissen: eine Waschstelle an der Medem gibt’s nicht mehr, Kaffeebohnen könnte ich mörsern und mit heißem Wasser übergießen, aber das würde mich nicht sehr zufriedenstellen, ich könnte selber singen, aber da wären alle um mich herum sehr unzufrieden und dieses kleine Gerät hier auf meinem Schoß? Da könnte ich eben weder schreiben noch einen Kurs machen noch sonst etwas derartiges und viele Mitmenschen könnten dann nicht mehr „arbeiten“. Denn sie arbeiten mit diesem kleinen Gerät und werden dafür, was sie daran tun, bezahlt. Wenn das kleine Gerät also nicht mehr seine Arbeit tut können sie ihre nicht tun und bekommen auch kein Geld. Sie sind also darauf angewiesen und wir alle können uns den Stresspegel vorstellen, der entsteht, wenn diese kleine Gerät sich verweigert. Diesen Stresspegel gäb es nicht, gäbe es dieses kleine Gerät nicht. Dann gäb es aber noch Waschstellen an der Medem. Komische Gedankenführung.

Jetzt kommt das, was der eigentliche Knackpunkt ist:

dieses kleine Gerät hier auf meinem Schoß (und alle anderen Geräte, die in dieselbe Richtung gehen: Handys, Tablets usw.) haben die Eigenschaft, dass sie den Menschen zur Hälfte aus der Zeit fallen lassen. Denn in der Welt dieser Geräte existiert Zeit nur bedingt. Auf der menschlichen Ebene zieht sie weiter ihren von uns gefühlt linearen Ablauf. Deshalb sitzt du dann vier Stunden am Laptop, aber dein Gehirn denkt, es wären erst 30 Minuten vergangen. Das führt immer wieder überall auf der Welt zu Diskussionen, Streit und anderem mehr. Wir kennen das inzwischen alle, oder?

Wir könnten nun sagen: dieses kleine Gerät stiehlt uns einen Teil unseres Seins. Das stimmt auch zur Hälfte, und das vor allem dann, wenn dieses kleine Teil zu einem Teil von uns wird und wir nicht mehr ohne dieses kleine Teil existieren können. Denn faktisch gesehen hängt deine Existenz nicht davon ab, aber du könntest es durchaus glauben und dir selbst viele logische Argumente liefern, dass das natürlich so ist.

Wenn ich also sage: Ich habe doch keine Zeit! dann ist die Frage: warum denke ich das und worauf bezieht sich das?

Ich nehme einfach mal mich selbst als Beispiel, in Ordnung?

Vor einiger Zeit habe ich ein Magazin herausgebracht. So ein richtiges, sehr hübsches Magazin mit Texten, Bildern, einem tollen Outfit. Das zu erstellen hat „Zeit gekostet“ (noch so eine komische Affirmation, die wir tagtäglich benutzen, als ob Zeit eine Währung wäre). Und während ich das gemacht habe, konnte ich natürlich nichts anderes machen. Ich bin ja, wie wir alle, ein Wesen mit 2 Händen und 2 Füßen und einem Gehirn, das nur eine Sache vernünftig gleichzeitig machen kann. Während ich also da sitze und an meinem Magazin arbeite kommen aber noch viele andere Dinge dazu (jede arbeitende Mama kennt das): ein Kind ist krank, das andere muss später zur Schule. Der Abwasch wartet, ein Haufen Wäsche auch (ein besonders großer Haufen, verursacht durch gestrigen Schwimmbadbesuch und nächtlichen Pipiunfall). Die Fenster wurden schon länger nicht geputzt und im Garten wächst alles wild vor sich hin, was Mutter Erde eben so wachsen lassen kann. All das wabert durch mein Gehirn, während ich aber die Abgabefrist habe. Und die ist in zwei Tagen. Das Gefühl keine Zeit zu haben erdrückt mich schier. Wie soll ich das jetzt alles schaffen? Das kriege ich nicht hin.

Was ich sehr tröstlich finde ist: Nein, das krieg ich auch nicht hin. Du auch nicht. Niemand. Und weißt du was? Das musst du auch gar nicht. Denn wer sagt denn eigentlich, dass das jetzt alles sofort und auf einmal erledigt sein muss? Das sagst ja nur du. Ich weiß, das weißt du. Trotzdem wurmt es dich. Ich fühle dich. „Ich habe doch keine Zeit“ wirfst du also wegen diesem Druck, der da in dir entstanden ist, dem nächsten an den Kopf, der noch irgendwas von dir will.

Erst einmal vorab: Du hast Recht. Ja wirklich, du hast Recht!

Natürlich hast du keine Zeit.

Und doch hast du alle Zeit der Welt. Denn Wäsche wäscht sich nicht von selbst, die Kinder versorgen sich nicht von selbst und das Magazin macht sich nicht von selbst. Toll, oder?

Jetzt kommt das Geheimnis dahinter: Du hast Zeit, wenn du Zeit an andere verschenkst und/oder sie mit ihnen teilst. Schau mal in deine To-Do-Liste, an welcher Stelle du jetzt Zeit verschenken kannst. Genau: deine Kinder. Also machst du das zuerst: du kümmerst dich um die kranken Kids, versorgst die verunfallte Wäsche. Du liest dem kranken Kind was vor, kochst einen Tee. Und auf einmal, es ist echt nur eine Viertelstunde vergangen ist das kranke Kind selig eingeschlafen, der erste Schwung Wäsche ist in der Maschine und du hast Zeit für dein Magazin, die du nutzt. Solange es eben geht. Du hast Zeit! Sag mal: Ich habe Zeit.

Denn in Wahrheit haben wir immer für alles Zeit. Immer. Wir nutzen sie nur häufig nicht wirklich. Und wir sind egoistisch und teilen nicht. Und dann wird’s eng.

Teil deine Zeit. Dann hast du mehr davon. In mehrfacher Hinsicht.

Ich wünsche dir heute einen wunderbar zeit-vollen Tag mit vielen geteilten Erlebnissen!

Deine Susanne