Menschen-Recht und Inklusion

Wenn man ein schwerbehindertes Kind pflegt – oder in einer Einrichtung mit Schwerbehinderten arbeitet – wird man früher oder später mit dem Wort „Inklusion“ konfrontiert. Inklusion bedeutet laut Definition, dass jeder Mensch gleich ist und alle Menschen Zugang haben sollen zu Bildung, Soziales Leben, Kultur, Freizeit, Gesundheit. Jeder Mensch verdient die gleichen Möglichkeiten und Chancen, was auch immer seine eigenen Herausforderungen sind.

Wer mich ein bisschen besser kennt weiß, dass ich mich nicht viel um Politik kümmere. Ich schaue auch keine Nachrichten und lese keine Zeitung. Und das tue ich ganz bewusst nicht. Insbesondere Fernsehen heißt Zerstreuen. Und Negativität hoch eintausend. Und ich habe mich schon vor Jahren von diversen Fokuskillern und Negativitätsschleudern verabschiedet. Trotzdem erreichen einen immer alle relevanten Dinge und Details, auch wenn man das weder braucht noch möchte. Aber ich schweife ab.

Wir leben heute in einer Welt, die aus Trennung besteht. Die meisten Menschen sind so sehr von sich selbst abgekoppelt, dass es manchmal fast so scheint, als gäbe es keine Heilung für Mutter Erde mehr. Und wer von sich selbst abgekoppelt ist, ist auch von anderen Dingen abgekoppelt, die weiter gehen als die eigene Nasenspitze. Die tiefer gehen als die Füße, die auf dem Boden stehen und höher, als das höchste hochstehende Haar. Das bringt mit sich, dass Worte wie „Menschenrecht“ oder „Inklusion“ häufig nur noch gut gemeint sind und aus einer leeren Glocke bestehen, die zwar schön klingt, aber eben völlig hohl ist. Und wenn man selbst ein schwerbehindertes Kind pflegt fällt einem diese Glocke dann und wann auf den Kopf und tut weh.

Ich stehe ein für Frieden, für Verbindung und für Gemeinschaft. Da wir ja fast alle vergessen haben, welche Bedeutung „Familie“ haben kann, ja vielleicht auch sollte, nehme ich hier einfach mal das Wort: Gemeinschaft. Denn in einer solchen leben wir alle, auf die eine oder andere Art. Deshalb wurden Regeln gemacht, damit diese Gemeinschaft bestmöglich zusammenarbeiten kann. Leider geht es bei den meisten dieser Regeln nicht um die Menschen, die es be-regelt, sondern um etwas aufgeblasenes, was davor steht. Es geht häufig um die Profilierung von diesem und jenem, es geht um wirtschaftliches Wachstum oder um Bedürfnisse von Einzelnen innerhalb dieser Gemeinschaft. All das ist wieder: Trennung.

Kommen wir mal wieder zu der Glocke namens Inklusion. Ich bin davon überzeugt, dass alle, die entweder schwerbehinderte Menschen pflegen oder selber schwerbehindert sind, diese Glocke schon erlebt haben. Denn wenn du mal im Rollstuhl bist, dann erlebst du an allen Ecken, dass Barrierefreiheit nur ein Wort ist. Und dass Inklusion ein Konzept in einem Buch ist. Wenn es nicht gelebt wird (oder gelebt werden kann), dann wird es einem fast aufgezwungen. Und wenn das Krankheitsbild genau das nicht zulässt (weil der Erkrankte von all dem menschlichen Gestank und Geräusch noch kränker wird) wird einem sogar noch Rechtswidrigkeit per Knopfdruck zugesagt. Es gibt also eine Glocke, die Recht heißt und da gibt es dann wieder Glocken, die auf diese eine Glocke schlagen und alle zusammen ergeben einen ziemlich schiefklingenden Krach, der dann wieder einen Namen hat und bei all dem wird eines ganz vergessen: der behinderte Mensch, um den es dabei geht.

Mein behindertes Kind hat keine Stimme in dieser verrückten vollgeglockten Welt. Er kann weder sprechen noch sich gegen Dinge wehren. Er hat mich und uns als Familie, die auf ihn aufpassen, beschützen, fördern und lieben. Und wenn wir hingehen, ihn aufhören zu sehen und ihn in ein Korsett namens Inklusion stecken, weil in einem Buch steht, dass jeder Mensch das so machen soll, dann muss er das über sich ergehen lassen. Ob ihm das gut tut, oder nicht. Vielleicht hat er das Glück und wird gesehen und man versucht auf ihn einzugehen, ihn zu lesen, ihn mit seinen Bedürfnissen wirklich abzuholen und darauf einzugehen und alle Glocken und Korsetts vor der Tür neben ihren Vertretern stehen zu lassen.

Sollte ich mein Kind mit seinen vielen besonderen Bedürfnissen jetzt zum Anlass nehmen, ihm das Korsett namens Inklusion überzustülpen und mir dann einen Orden auf die Brust malen, weil ich dann „alles richtig“ gemacht habe, weil irgendwann mal irgendwer vor irgendeinem Gebäude dafür die Fahne geschwenkt hat?

Versteht mich nicht falsch. Alles hat seine Zeit und viele Kämpfe mussten auch ausgefochten werden, damit wir Menschen (weil wir nicht so besonders schlau sind) uns weiterentwickeln können und alle in der Gemeinschaft wirklich abgeholt werden und dennoch alles einigermaßen rund läuft. Aber wir werden uns nicht weiterentwickeln, wenn wir die Bedürfnisse eines einzelnen Kindes übergehen wegen einer Glocke. Inklusion bedeutet (spannenderweise) nämlich auch, dass Kinder dabei sein müssen in Regelschule, bei Freizeitangeboten in lauten und wilden Freizeitparks, bei Menschenansammlungen und Festivitäten und so weiter und so weiter. Inklusion bedeutet meistens nämlich nicht, dass Behindertentoiletten wirklich behindertengerecht sind (denken wir mal an all die Inkontinenten, die mit keiner dieser Toiletten was anfangen können) oder dass man in einer Klinik entsprechend des Bedürfnisses dieses behinderten Menschen behandelt wird. Es bedeutet aber, dass man Behinderte so gut wie gar nicht sieht, es bedeutet, dass man in Restaurants nicht überall sitzen darf (oder sogar hinausgebeten wird), es bedeutet, dass man am sozialen Leben in vielen Fällen nicht teilnehmen kann. Inklusion in dieser Welt bedeutet Trennung. So schön das Wort auch klingt, so wenig Gehalt hat es. Unsere Welt, dieses Land, in dem wir leben, fördert es eben nicht, trotz dieser Glocke namens Inklusion, dass behinderte Menschen „ganz normal“ mit dazugehören. Dass sie ihren Bedürfnissen folgend einiges mehr möglich ist. Es bedeutet nicht, dass Spielplätze so gebaut sind, dass auch behinderte Kinder dort teilnehmen können (es gibt z.B. extremst selten eine Möglichkeit mit einem Rolli überall hinzukommen, man muss über Gras, über diese geriffelten Holzspäne und groben Kies usw.usw…). Behinderte Menschen sind hier viel zu oft ein Dorn im Auge und sollen gar nicht wirklich am öffentlichen Leben teilnehmen. Wer hält einem die Tür auf, wenn man mit einem Rolli ankommt? Wer hilft im Bus? Oder im Geschäft? Wer zeigt Empathie, wenn das behinderte Kind jammert oder schreit? Wer schaut hin, statt weg, wenn was oder wer anders ist?

Und wir sprechen über Inklusion in der Regelschule für schwerbehinderte Kinder? Über Inklusion in Sportparks? Wie viele schwerbehinderte Kinder können denn in die Regelschule, wie sie im Moment existiert? oder in einem Sportpark an einem Angebot teilnehmen?

Warum gibt es nicht wirkliche Hilfsmittel in Schwimmbädern, wo doch bekannt ist, dass gerade das Schwimmen und der Aufenthalt rund ums Wasser für behinderte Menschen so heilsam ist? Warum ist der Besuch in einem Tierpark oder Zoo so gestaltet, dass man zu vielen Gehegen mit Rolli gar nicht kommt oder die Zäune so hoch sind, dass die Kinder im Rollstuhl gar nichts sehen können?

Welche Möglichkeiten und Chancen hat ein behindertes Kind denn WIRKLICH in dieser Welt, in diesem Land? Ist es wirklich ausreichend, diese kleinen besonderen Wesen von Therapie zu Therapie zu schleppen, ihnen Stromanzüge anzuziehen, die ihnen regelmäßig Stromschläge verpassen, ihnen mit Geräten jeder Art Dinge beizubringen, auf die sie möglicherweise (niemand weiß es) von selber gekommen wären? Ist das Liebe? Mein Kind von Therapie zu Therapie zu schleppen? Ihm Dinge über seinen Körper, seinen Kopf, seine Hände zu stülpen um ihn möglichst „normal“ zu machen, möglichst in das Korsett „heutige Welt“ zu quetschen, und all das mit der Überschrift: Das ist Menschenrecht, das ist Inklusion? Damit er wie verrückt in einer Achterbahn schreien kann? Den Führerschein für sonstwas machen kann? Sich in einem Wirtschaftsunternehmen am Bruttosozialprodukt beteiligen kann? Und wenn das alles nicht reicht, dann wird gebogen und gezogen und therapiert und stromgestoßt?
Wo bleibt denn dabei die Menschenwürde? Wo bleibt das Leben an sich? Leben wir wirklich in so einem optimierungswahngesteuerten Land, dass wir gar nicht mehr mitkriegen, was wir da tun? Wir beuten Mutter Erde so sehr aus, dass sie inzwischen überall blutet und sich möglicherweise nie wieder davon erholen wird, wir beuten uns selber so sehr aus, dass wir schwer krank werden, wir beuten unsere Kinder aus, und alles dafür, damit wir in das hineinpassen, was hier so als „normal“ empfunden wird. Und das nennt sich dann Leben? Wirklich? Reicht dir das wirklich?

Ich glaube es gibt Menschen, für die ist es wichtig, durch die Achterbahn zu sausen. Für die ist es wichtig, über Recht und Pflicht zu philosophieren. Für die ist Inklusion ein Zuhause, in dem und für das sie geboren werden. Ganz sicher gibt es das. Und ich freue mich darüber!

Ich selber stehe diesem System mit großer Skepsis gegenüber und ich weiß, dass gelebte Inklusion, jedenfalls jetzt und heute, in unserem Fall mit unserem kleinen Zauberer nur auf Kosten des kleinen Zauberers geht und dafür sorgt, dass es ihm sehr schlecht geht und womöglich schlimmeres. Warum? Weil ich es erlebt habe.

Glocken sind schön. Doch manchmal sind sie nur hohl und ihr Klang vertreibt die Gemeinschaft, die alle Menschen brauchen, um wachsen zu können. Vertrauen, um lieben zu können. Und Liebe, um Leben zu können.

Ich hoffe es geht euch allen gut und ihr bekommt die Liebe und das Gesehenwerden, was ihr braucht, um wachsen zu können.

Habts fein. Eure Susa