Wenn alles in dir schweigt, kann etwas Neues zum Leben erwachen.

Es folgt ein Auszug aus meinem Buch, was gerade entsteht. Viel Spaß beim Lesen!

Du bleibst stehen, wischt dir den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn und betrachtest die weißen und die braunen Steine um dich herum. Sie sehen nicht so aus, als könnten sie dir Wasser spenden oder als ob sie essbar wären. Sie sehen aus wie ganz normale Steine. Sie sehen auch nicht so aus, als könnten sie die riesige klaffende Wunde heilen, die gerade wieder in deinem Herzraum aufgerissen ist durch all die Trockenheit umher. Die Wunde, die dich fast körperlich schmerzt: die Wunde der Einsamkeit. So stark hast du sie lang nicht mehr gefühlt und deine Beine sind dadurch bleischwer geworden, du spürst wieder diesen merkwürdigen Druck auf deiner Brust. Was kannst du nur tun? Hier gibt es ja nichts und niemanden. Wer oder was könnte dir helfen? Deine Augen werden heiß und ein paar dicken Tränentropfen treten in die Augenhöhle neben die dicken rollenden Schweißtropfen. Erst heute spürst du, dass dein Körper so stark auf deine Gefühle reagiert. So im normalen Alltag hast du das nie so deutlich wahrgenommen wegen all der Ablenkungen und Beschäftigungen, die die ganze Zeit ablaufen. Du verstehst auf einmal, dass Gefühle tatsächlich auch etwas Körperliches sind. Wie eine Schicht unter der Hautschicht, unsichtbare Bahnen neben deinen Nervenbahnen? Vielleicht ist ja alles ganz anders, als du dachtest?

Du denkst an den Fokus wie vorhin – und beschließt, eben den Fokus jetzt anders auszurichten. Anders als auf Einsamkeit, Durst und Hitze. Das muss doch zu schaffen sein. Genau, wenn man an etwas denkt, wofür man dankbar ist, dann wird´s besser. Hast du mal gelesen.
Du bleibst stehen und versuchst, dich dankbar zu fühlen. Aber der Körper brennt vor Hitze, alles tut weh und der Durst ist unerträglich und dein Herz fühlt sich an wie eine frisch geöffnete Wunde. Es ist heiß und trocken und du kannst dich einfach nicht an das Gefühl von Dankbarkeit erinnern. Diese schrecklichen Gefühle von Hitze und Durst erdrücken jedes Gefühl von Dankbarkeit. Oder das von Liebe oder Harmonie. Du kannst dich nicht mal mehr daran erinnern, wie du dich gefühlt hast, als der Goldglitzer-Engel bei dir war. Du weißt noch, dass er da war und wie er aussah, aber das Gefühl lässt sich einfach nicht abrufen. Als ob eine dicke Mauer um dich herum wäre, aus weißen und braunen Steinen und alle schönen Gefühle abblocken würde. Als ob deine Gefühle ebenfalls in dieser trockenen Geröllwüste steckengeblieben wären. Du versuchst vergeblich, deinen Fokus zu lenken, aber die Hitze, Durst und Schmerz überwältigen dich, und du fühlst dich hoffnungslos verloren.

Wie viel Sinn macht es eigentlich, Gefühle zu ignorieren? Gefühle machen Spaß, solange sie positiv und schön sind und ein gutes Wohlgefühl hinterlassen, oder? Aber wenn sie Schmerz verursachen, will man sie nur noch loswerden. Eigentlich möchtest du sie ignorieren. Sie nicht mehr fühlen. Sie loswerden, jetzt! Dich sofort und auf der Stelle wieder gut, schön und positiv fühlen.
Hast du schon einmal von „toxic positivity“ gehört? Ja, es gibt eine ganze Sparte von Denkern in der spirituellen Welt, die darauf bestehen, dass Gefühle positiv beschwingt, „hochschwingend“, wie sie sagen, sein müssen. Denn nur dann kann man das Leben haben, bekommen, was man möchte, nur dann kann man weiterkommen und dauerhafte Zufriedenheit etablieren. In diesem Geröllhitzewüste-Debakel bedeutet das: „Denk positiv. Bleib dankbar. Geh auf keinen Fall in ein „negatives Gefühl“! Denn nur dann kommst du raus!“
Ist das so? Wer von uns kann denn dauerhaft glücklich und positiv sein, vor allem, wenn äußere Umstände sehr schwierig werden? Ja, es stimmt: Gefühle, die wir als negativ einstufen tun uns weh und wir mögen sie nicht. Wir lehnen sie teilweise so sehr ab, dass wir sie überlagern wollen mit irgendwelchen positiven Gefühlen. Wir wollen uns fast gewaltsam von diesen negativen Erinnerungen, Situationen und Gefühlen mit positiven Gefühlen ablenken. Wir gehen also „gezwungendermaßen“ in Gefühle wie Dankbarkeit, Liebe oder Freude hinein, wir zwingen uns dazu, diese, wie wir denken, „hochschwingenden“ Gefühle zu fühlen. Manchmal klappt es für eine gewisse Zeit. Aber ganz sicher kommen die anderen Gefühle nach kurzer Zeit wieder, und dann häufig mit doppelter Intensität. Dazu kommt noch, dass wir uns anfangen zu beschimpfen, weil wir uns nicht dankbar, liebevoll oder freudevoll fühlen können, weil wir ja „hochschwingend“ sein sollen, es aber nicht dauerhaft können. Und sich selbst zu beschimpfen ist wohl das Gegenteil von „hochschwingend“, oder?

Kann man diese doofen Gefühle nicht auch einfach loslassen, an Helium-Ballons hängen und in den Himmel schicken? Warum klappt das damit nicht? Aber halt – Dich ablenken mit anderen Gefühlen oder Dingen oder Handlungen, das klappt doch sehr oft sehr gut. Im Alltag geht das die ganze Zeit: Arbeit, ein Buch lesen, oder viel besser noch: ausgehen, etwas Alkoholisches trinken, fernsehen ist auch immer super oder am Handy spielen, das ist einer deiner Favoriten. Aber hier kannst du gerade nicht ausgehen, hier gibt es auch keinen Fernseher und dein Handy hast du auch nicht mitgebracht. Ablenkung in der Form ist also nicht drin. Seufzend fällt dein Blick auf all die Steine um dich herum. Du könntest ein schattenspendendes Häuschen aus Steinen bauen. Du findest, das klingt nach einer wirklich guten Idee und du beginnst sogar damit. Stein für Stein legst du aneinander und aufeinander. Dabei fühlst du zwar noch alles, und dein Gedankenkarussell läuft auch ganz munter vor sich hin, aber irgendwie bist du gleichzeitig auch abgelenkt durch eine gleichförmige Beschäftigung deines Körpers.

Du versuchst an Dinge zu denken, die dich irgendwie von deinem Unwohlsein ablenken, etwas Positives, Beschwingtes vielleicht. Du gibst dir wirklich richtig viel Mühe dabei. Aber der Druck auf der Brust ist noch immer da und dir fallen irgendwie keine echten Dinge ein. Du überlegst, worüber du das letzte Mal richtig gelacht hast. Es fühlt sich ganz leicht lustig an, aber nicht lustig genug zum lachen und der Druck wird größer statt kleiner. Irgendwie macht das gerade keinen Sinn. Positive Gefühle machen keinen Sinn? Du spürst eine Art von Verzweiflung in dir aufkommen. Wie kann denn das sein? Sind nicht gerade die positiven Gefühle die, nach denen wir unser ganzes Leben ausrichten sollten? Die hohe Schwingung und so? Deine Hand hört auf, Steine aufzutürmen, und hängt schlapp an deinem Körper herunter.

Noch immer bist du hier ganz allein, die Sonne brennt auf deinen Rücken und du hast Durst, deine Beine sind bleischwer, du hast einen Druck auf der Brust und ein Gefühl der Verzweiflung im Kopf, was dir Kopfschmerz verursacht. Sowas gibt es doch gar nicht oder? Dein Kopf weigert sich, zu glauben, was da gerade passiert. Er sucht nach Blockade-Lösungen, findet aber so schnell keine, weil der Druck auf der Brust und der Schmerz im Kopf so vehement sind und aufeinander folgende logische Gedanken in einen grauen dicken Nebelschwaden bannen. Und jetzt?

Die bleischweren Beine zwingen dich nun endlich dazu, dich zu setzen. Mitten auf dem Geröll setzt du dich hin, genau neben deinen kleinen Steinturm, streckst deine Beine aus, legst deinen Kopf in deine Hände und sitzt eine Weile so da. Du hörst dem Rauschen der Gedanken und dem Drücken der Gefühle eine Weile zu. Dicke Tränentropfen rinnen durch deine Finger und tropfen warm auf deine Knie. Du fühlst dich gerade so unfair behandelt, so einsam und fragst dich wieder einmal nach dem Warum zu all dem. Könnte dein Körper dir nicht einfach helfen und ohnmächtig werden? Warum wird man eigentlich nie in den passenden Momenten ohnmächtig? Und warum kommen so schreckliche Gefühle, die man loswerden will, immer in den unpassendsten Momenten? Wobei – gibt es denn dabei überhaupt passende Momente?

Du hebst deinen tonnenschweren Kopf an und blickst durch die tränenverhangenen Augen umher. Weiße und braune Steine. Braune und weiße Steine. Der kleine Turm aus weißen und braunen Steinen. Und die brennende Sonne von oben. Und es sieht nicht so aus, als ob sich das bald ändern würde. Du schluchzt auf. Gibt es denn keinen goldenen Ritter in einer schicken Rüstung, der dich rettet? Der hier vorbeikommt und dich ganz bequem mitnimmt auf seinem weißen Ross? Vielleicht wieder der Goldglitzerengel? Jetzt wäre es doch viel passender, wenn er jetzt käme, oder? Mit einer Badewanne voller Wasser. Warum ist das Leben eigentlich so? Dass man sich immer wieder so quälen muss? Dass es nicht einfach einfach und bequem ist? Dass das Lebenshochgefühl manchmal trotz Meditationen mit positiver Energie genau 5 Minuten anhält? Und dann wieder vorbei ist?
Eigentlich hast du sonst immer dafür gesorgt, dass das Leben so einfach und bequem ist wie möglich – und bleibt. Keine dramatischen Wendungen, keine spontanen Endungen. Keine Außergewöhnlichkeiten und keine Dinge, die zu anders oder auffällig oder zufällig sind.

Wir kaufen die Kleider, die zehnfach auf der Stange hängen, essen kiloweise Vorproduziertes und lesen Bücher, die alle lesen. Bloß keine unüberlegten oder überraschenden Wendungen. Das kann fatale Folgen haben – so wie das hier jetzt. Oder?

Stelle dir eine Person vor, die in einem Bürojob feststeckt. Tag für Tag zieht sie sich dieselben Klamotten an, die hier jeder andere Mitarbeiter trägt, isst die öden Gerichte aus der Kantine und liest die Mainstream-Bücher, die jeder liest, um mitreden zu können. Sie ist unzufrieden, weil sie in ihrer Routine gefangen ist und sich nicht authentisch fühlen kann und auch nicht weiß, wie sie in eine innere Freiheit oder Authentizität gelangen kann. Dieser Zustand kann zu einer langfristigen Unzufriedenheit und Selbstverleugnung führen. Und diese stetige Verleugnung der eigenen Wünsche und Gefühle kann schlimme Folgen haben. Eine davon ist eine Depression, wenn man sich schlussendlich hilflos und ausgeliefert fühlt.

All das hat dich jetzt hierhin geführt – und du bist dir jetzt gerade gar nicht sicher, ob du das so überhaupt wolltest. Nein, du bist dir sicher: So wolltest du dich nicht fühlen. Niemand würde sich so fühlen wollen, oder? Einsam, verzweifelt, hungrig und durstig, überhitzt und voller diverser Schmerzen. Nach und nach tauchen Erinnerungsfetzen auf, als du dich in deinem Leben genauso gefühlt hast: als du von deinem Vater im Stich gelassen wurdest und ganz allein zurechtkommen musstest. Und als dein Ex-Freund fremdgegangen ist und dich mit all deinem Schmerz ausgelacht hat. Als dein Ex-Vermieter dich rausgeworfen hat und nur die Schultern gezuckt hat, als du nicht so schnell etwas Neues finden konntest. Als deine Mutter dich einem schrecklichen Mann durch eine Falschaussage ans Messer geliefert hat. Du hast dich in deinem Leben schon oft so gefühlt: einsam, verzweifelt, hungrig und durstig nach Liebe und Mitgefühl, überhitzt von der Hitze der Emotionen und voller diverser Schmerzen, die in den Momenten kein Ende nehmen wollten.

Dein Kopf hängt schwer auf deiner Brust, dein Gesicht versteckt hinter der Menge von Tränen, die sich mit Staub und Erde auf deinen Wangen, Armen und Händen zu einer trostlosen Mischung vermengen. Die Gedanken in deinem Kopf, der Wirrwarr von Fragen und Erinnerungen, verschwimmen in einem Chor von Trauer und Verzweiflung. Ein Gedanke wird langsam, aber sicher immer lauter: Könnte es womöglich sein, dass du dir all das unbewusst in deinem Leben erhalten hast, damit du eine Art von Entschuldigung hast? Und die Verantwortung auf all die Menschen abschieben konntest, die dich so gequält und schlecht behandelt hatten? Ja das hatten sie – aber ist es denn nicht trotzdem dein eigenes Leben? Nicht das deines Vater, deiner Mutter oder deines Ex-Freundes? Dein Vater hat doch jetzt gar nichts mehr davon, dass du den Schmerz von damals noch immer empfindest, richtig? Deiner Mutter ist ihr Verrat egal und du interessierst sie noch immer genauso wenig wie damals, denkt es weiter in dir.
Du sitzt da und fühlst all diese Gefühle und die schwarze Wolke der einsamen Verzweiflung hängt über dir. Du kannst ihr nicht entkommen, also bleibst du einfach ganz still sitzen und tust etwas, was du noch nie zuvor getan hast: Du lässt alles da, wo es gerade ist, du fühlst alles, was gerade gefühlt werden will. Du kannst gar nicht anders, du kannst ja nirgends hin, also lässt du es einfach zu. Denn Außen ist ja gerade alles, wie es ist – ohne Hoffnung auf eine schnelle Hilfe.

Plötzlich siehst du dich von der Seite. Als ob du neben dir stehen und dich selbst beobachten würdest. Du siehst das tränennasse, staubverschmierte Gesicht. Du siehst die geschlossenen Augen und die Verzweiflung in dem Ausdruck. Du siehst den kleinen Turm neben deinem Körper, den deine Hände nur halbbewusst gebaut haben. Du siehst an der Bewegung deiner Augen, dass immer noch viele Gedanken durch den Kopf wandern, aber du kannst sie gerade nicht wahrnehmen. Du spürst gerade auch keinen Schmerz, keine Verzweiflung, keine Hitze und keinen Durst. Bist du jetzt doch ohnmächtig geworden?

Ja, gewissermaßen bist du das. Vielleicht hat die Hitze das bewirkt, was du hier erlebst: Deine Seele hat sich ein bisschen vom Körper entfernt. Wenn du das jetzt bewusst wahrnimmst, ist es schlagartig vorbei. Denn wir Menschen hängen an der Vorstellung, dass die Seele IM Körper sein muss, damit er überleben kann, und der größte Wunsch von allen Menschen ist es zu überleben. Möglichst alles und möglichst lange.
Du entschließt dich herauszufinden, warum dein Astralkörper sich von deinem fassbaren Körper gelöst hast. Du schaust dich also um. Du hast schonmal davon gehört, dass es so ein Phänomen gibt, aber erlebt hast du es noch nie. Dir wird klar, dass du so überallhin reisen könntest. Überall – ohne jede Begrenzung. Aber jetzt willst du nicht reisen, sondern deinem Körper helfen. Aufmerksam nimmst du alle Aspekte deiner Umgebung wahr mit dem Ergebnis: in der nahen Umgebung ist wirklich nur Stein. Aber dahinten, eigentlich gar nicht so weit und ganz sicher auf für deinen Körper noch zu schaffen erhebt sich so etwas, was von hier wahrnehmbar ist als Oase: viel Grün, du kannst sogar ein Plätschern von Wasser wahrnehmen. Dein Körper wird wieder Hoffnung schöpfen, wenn er diese Information bekommt. Aber wie kommst du jetzt zurück in dein Bewusstsein? Eingehend betrachtest du noch einmal deinen Körper. Du gehst um ihn herum, schaust dir alles aufmerksam an. Und auf einmal fühlst du doch etwas: Liebe. Liebe zu diesem einsamen Wesen, das da sitzt und diese Gefühle der Verzweiflung fühlt. Eine so tiefe Verbindung und Liebe spürst du, wie du vorher in deinem Leben noch nie wahrgenommen hast. Sie durchströmt jeden Teil deines Seins und erfüllt dich mit so viel Wonne, dass die Tränen des Körpers zu heißen Tränen der Liebe werden. Da ist sie, die Verbindung. Du weißt es sofort und du wirst es ganz sicher nie wieder vergessen: Dieses Wesen ist so liebenswert und hat es verdient, ein schönes, fülle-volles Leben zu führen! Dieses Wesen ist so wunderbar und hat so viele Talente und wundervolle Anlagen, die nur freigeräumt werden brauchen! Alles ist schon angelegt, alles ist da! Es gibt keinen Grund dieses Wesen abzulehnen oder für etwas zu schimpfen, was längst vorbei ist. Es ist da, um auch diese Gefühle zu erleben und genau da hindurchzugehen, denn auch sie sind ein Teil der Fülle, die das Leben bringt. Selbst das Gefühl der Verzweiflung ist ein Teil davon. Du möchtest dieses Wesen jetzt unbedingt umarmen, ganz fest und ganz lange – und als du deine Arme um deinen Körper legst, wirst du schlagartig wieder hineingezogen – und öffnest deine Augen.

Du blinzelst. Wie lange hast du hier so gesessen? Und was genau hast du da gerade erlebt? Dein Kopf versteht das gerade alles nicht, doch die Tränen sind auf einmal angetrocknet und du fühlst dich so viel ruhiger. Und du fühlst eine Gewissheit, dass alles richtig ist, so wie es gerade ist. Du siehst das Bild vor deinem inneren Auge, wie du dich selbst von der Seite siehst und spürst dieses unglaubliche Gefühl von Liebe. So etwas hast du vorher noch nie gespürt. Und es fühlt sich wunderbar an! Du fühlst wie noch nie zuvor, dass du gut bist, dass du richtig bist und dass du hier an deinem Platz bist. Auch wenn deinem Kopf das gerade echt schräg vorkommt. Genau hier sollst du sein!
Langsam stehst du wieder auf.

Du beginnst durch deinen Körper zu scannen. Die Füße fühlen sich wohl, alles ist easy da an der Stelle. Die Beine wackeln ein bisschen, als ob sie zu viel gelaufen wären. Sie fühlen sich schwer an, aber sie tun auch nicht mehr weh. Der Popo, der gerade auf dem Boden saß, mag die Steine nicht so, er tut ein bisschen weh, aber das ist in Ordnung. Der Bauch knurrt und hat Hunger, aber das ist auch nicht schmerzhaft, es ist so interessant und gewohnt, gar nicht schlimm. Der Rücken ist ruhig, alles in Ordnung. Der Brustraum ist schwer, du kannst ein leichtes Ziehen zu den Achseln in wahrnehmen. Es fühlt sich an, als ob du da krank werden könntest. Und es sitzt noch immer ein tonnenschwerer Klotz auf deiner Brust. Die Schultern sind entspannt, genau wie die Arme und Hände, die einfach herunterhängen. Das Gesicht glättet sich, als du es innerlich überfühlst und der Schmerz unter deinen Haarwurzeln löst sich ganz, ganz langsam auf, wie eine Wolke, die langsam weiterzieht.
Und plötzlich, als diese Ruhe in dir Raum bekommt und sich von Körperteil zu Körperteil ausbreitet, spürst du den Gegenstand in deiner Tasche. Er scheint zu vibrieren. Ach ja! Du hast doch einen Kompass! Du nestelst nervös an der Tasche, bis du den glitzernden Kompass in den Händen hältst. Ein bisschen musst du mit den Augen blinkern, bevor du etwas sehen kannst, denn die helle Sonne und das Glitzern des Kompasses tauchen deine Umgebung in ein noch helleres Licht.
Und als du den Kompass so betrachtest, fühlst du die Anwesenheit des blauen Engels wieder. Das Gefühl, das er transportierte, fühlst du auch wieder: diese Ruhe und diese Geduld. Es ist, als stünde er auf einmal neben dir, legte seine Hand auf deine Schulter und sagte: „Alles hat seine Zeit. Es braucht Liebe und Geduld zum Reisen.“
Du spürst, wie deine Gedanken leiser werden und dein Gefühlschaos abebbt. Du lauschst, damit du ja nichts Wichtiges verpasst. Du kannst die Luft sirren hören, von der Sonne aufgeladen, voller Energie. Du kannst die Steine singen hören, auch sie sind voller Energie, es ist, als ob sie dir Geschichten erzählten. Geschichten aus einer Welt, die dir gar nicht so bekannt ist und Geschichten vom Alleinsein, was dir in dieser Form auch noch nicht bekannt war. Und während du so lauschst und zuhörst, wird alles in dir ganz still. Ganz intuitiv greifen deine Hände den Kompass fester und deine Augen richten sich auf seine Nadel. Sie beginnt sich zu drehen, ganz langsam. Dein Herz fängt an, so laut zu pochen, dass man es ganz sicher weit umher hören kann. Der Kompass dreht sich und dreht sich. Du erinnerst dich, dass der Engel der Zeit zu dir gesagt hat: „Wenn dir der Kompass geschenkt wird hast du Unterstützung von allen diesen Kräften bei deinem weitern Weg. Wenn du Vertrauen in dich und diese Kräfte hast wirst du damit immer den richtigen Weg finden.“
Die Nadel bleibt stehen, sie zeigt nach rechts. Du schaust auf den Pfad vor dir und dann nach rechts. Dort ist doch nichts, denkst du. Aber innerlich weißt du: Es stimmt. Als ob du dich erinnern kannst an eine grüne Oase mit Wasserplätschern …
Deine Beine stehen wie von selbst auf und laufen los, du lässt den halben Turm und all die weißen und braunen Steine hinter dir, du läufst in die Richtung, die der Kompass dir gezeigt hat. Wie von allein bewegen sie sich und deine Augen richten sich abwechselnd vom Kompass auf das Geröllfeld vor dir – bis du bemerkst, dass die Landschaft ihr Aussehen verändert: Du erreichst einen Pfad, auf dem erste vertrocknete Gräser sind, dann kommen Sträucher hinzu, dann sogar ein Baum. Es erscheinen Wiesen rechts und links, die immer grüner werden. Deine Beine bewegen sich noch immer wie automatisch und du machst einen Freudenhüpfer. Ich hab den richtigen Weg gefunden … jubelt es in dir.

Dein Laufen hat sich nach und nach in ein moderates Tempo verwandelt. Richtig gut kommst du voran. Du hast noch immer den Kompass in der Hand und ab und an versicherst du dich, dass du noch auf dem richtigen Weg bist. Auf dem richtigen Weg zur Quelle. Zur Fülle. Zum Wasser und zum Essen – und in den Schatten! Oder wolltest du nur vom Mangel weg? Ja auch das. Weg von dem, was dich über so viele Jahre schon im Griff hat. Und die Quelle der Fülle ist ein Ort an einem wunderschönen Fluss entlang, der auf seinem Weg durch die reiche Landschaft überall Fülle und Glück hinterlässt und an seinen Ufern findet man überall Schätze und Erfüllung, wenn man dort gemächlich spazieren geht. So ähnlich stellst du es dir jedenfalls vor. Und das ist ganz weit weg von der Dunkelheit und dem Mangel, deshalb bist du ja losgegangen. Und da wolltest schon immer zum Ort der Fülle hin. Und während in dir ein kleines Hochgefühl entsteht, bemerkst du, dass du noch immer hungrig bist und auch noch immer durstig. Du bleibst stehen und schaust dich um. Sicher gibt es irgendwo Wasser, wenn alle Pflanzen grün sind und blühen. Und vielleicht ein paar Beeren oder Ähnliches lässt sich sicher auftreiben. Du schaust noch einmal auf den Kompass und merkst dir die Position. Dann beginnst du zu suchen. Du suchst und suchst – und suchst. Und während du suchst summst du, singst ein bisschen und lässt dich einfach nicht von schlechter Laune oder so einholen. Du fühlst, dass sie ein paar Schritte hinter dir ist … Ein paar Beeren findest du, aber das war´s auch schon. Zugegeben, du kennst dich auch nicht so gut aus. Sicher gibt es auch essbare Pflanzen, aber du hast gerade nicht viel Lust, alle Pflanzen auszuprobieren, die irgendwie annehmbar aussehen. Wasser findest du leider gar nicht und auch keine Schaufel, um dir einen Brunnen zu graben. Und wie das bei uns Menschen gern so passiert – während der Suche nach Essbarem und Wasser ist dein Durst und dein Hunger wieder sehr, sehr groß geworden. Dein Magen knurrt so laut wie ein sehr hungriger Wolf und dein Hals ist so trocken wie ein frischgewebter Teppich. Du willst jetzt unbedingt was trinken, sofort, sonst, so schwebt dir vor, musst du augenblicklich sterben.

So sitzt du wieder da am Boden, auf weichem, grünen Gras, das ein bisschen feucht ist. Die Vögel singen und die Bienen summen und die Sonne scheint von oben. Du schließt für einen Moment die Augen. Ja, die schlechte Laune hat dich eingeholt. Sie sitzt dir gerade gegenüber. Und jetzt weißt du nicht, was du fühlen sollst. Im ersten Moment ist es wie ein Déjavue, denn das hier hast du ja gefühlt gerade erst erlebt. Und dann fühlst du dich verwirrt. Du hast eigentlich gedacht, dass jetzt alles leicht ist und wie von selbst geht. Hast du nicht gerade erst eine riesige Herausforderung gemeistert? Wo bleibt der Sonnenschein nach dem Regen, wo bleibt das kleine Wunder? Du hast gedacht, dass der Kompass dich jetzt an den Ort der Fülle bringt und damit alle deine Probleme löst und es endlich bergauf geht und du jetzt den goldmünzensprudelnden Fluss findest. Aber du spürst jetzt, dass es nicht so ist.
Du hast das Gefühl, dass ein Puzzleteilchen fehlt. Aber was ist es nur? Du öffnest die Augen und da sitzt die schlechte Laune und grinst dich an. Die schlechte Laune, der Hunger und der Durst …. zusammen mit einer ganzen langen Reihe von negativen Gefühlen, die in 2er-Reihen anstehen. Zumindest hast du diese Gefühle irgendwann mal als negativ bewertet. Das Spiel kennst du ja auch, oder? Das Drama-Spiel. Das ist weitbekannt und gutgewohnt bei den meisten Menschen, ja und bei dir auch. Aber irgendwie hast du jetzt gar keine Lust auf Drama. Du hattest in deinem Leben schon so viele Dramen, so viele schlimme Gefühle, die damit einhergingen. Ein Drama hat nämlich immer ein Vor- und ein Nachspiel und abschließend hat man einen Drama-Kater. Immer. Und der fühlt sich manchmal noch schlimmer an als das eigentliche Drama. Und manchmal passiert es sogar, dass man das eigentliche Drama vergisst, weil der Kater zu einem eigenen Drama geworden ist. Im Grunde genommen ist es eine ziemlich wahnwitzige Sache mit den Dramen und den Katern, und weil das alles selbsterschaffen ist, ist es noch verrückter. Doch bis vor Kurzem wusstest du nicht so glasklar, dass du gerade diese Dinge selbst erschaffen hast. Eigentlich, denkst du, kam dir das immer irgendwie normal vor. Jeder war doch so, oder? Jeder hat sein Päckchen und sein Drama, oder? Aber es gibt nicht soviele Menschen, die dir sagen, dass du das gar nicht brauchst. Du kannst auch – zumindest fast – drama- und vergangenheitsfrei leben.

Vielleicht ist es ja jetzt der Kompass, der immer noch leicht vibrierend in deiner Hand liegt, der dich davon abhält in ein Drama abzuschweifen. Vielleicht ist es die Erkenntnis. Vielleicht ist es auch der leichte Windhauch, der deine Wange streicht und dich an die beiden magischen Besuche erinnert. Der Engel der Zeit und der goldene Engel. Du schließt deine Augen wieder und weil du findest, dass sich das Windstreicheln auf deiner Wange so wundervoll anfühlt, konzentrierst du dich auf deinen Atem, wie er aus- und eingeht und du stellst dir dabei vor, wie diese goldenen Lichtpartikel des goldenen Engels in deine Lunge steigen und sich überall im Körper verteilen. Du bist ganz und gar darauf konzentriert und weil du so fokussiert bist, kommen deine Gedanken ganz zur Ruhe, deine Gefühle ebenfalls – und sogar der Hunger und der Durst schweigen.

Es wird ganz still.
Ganz still.

Wenn alles in dir schweigt, kann etwas Neues zum Leben erwachen.