Lebende Gemälde – ein Galerie- Mysterium

Eine Kurzgeschichte über ein spannendes Mysterium. Von mir für euch. Los geht´s:


Das sanfte Vibrieren am Handgelenk lässt Anna aus ihrem tiefen Traum erwachen. Was? Wo? Erschrocken setzt sie sich auf und schaut sich um. Mit der linken Hand fährt sie sich über das Gesicht. Dann lässt sie aufmerksam ihre Augen durch ihr Zimmer wandern. Es liegt noch im Halbdunkel, einzelne Sonnenstrahlen lächeln durch die Ritzen der Jalousie. Sie liebt diese Stimmung am Morgen, wenn die Sonne ins Zimmer blinzelt und einen freundlichen Tag verspricht. Doch heute Morgen sitzt ihr noch ihr Traum im Nacken, der so lebendig und real wirkte, dass ihr Herzschlag noch immer ganz schnell geht. Mona Lisa stand vor ihr und wollte von ihr wissen, wo der Ausgang ist. Die blauen Kühe aus Gemälde Nr. 8 aus der oberen Ausstellung suchten Gras zum fressen und die pinken Tomaten aus dem Gemälde daneben lagen auf dem Boden VOR dem Gemälde.

Entschlossen schüttelt Anna jetzt den Kopf und schwingt ihre Beine über die Bettkante. War ja nur ein Traum, sagt sie sich und beginnt ihre Morgenroutine.

Drei Stunden später steht sie in ihrem schicken, blassrosa Kostüm in der Galerie. Heute ist Ausstellungsbeginn und sie freut sich sehr darauf. Mit viel Sorgfalt hat sie die einzelnen Exponate ausgewählt und geschmackvoll arrangiert. Sogar den störrischen Künstler konnte sie dazu überreden, heute in passender Kleidung zu erscheinen und sogar der Bürgermeister hat sich zur Eröffnung angemeldet. Das würde ein voller Erfolg werden – und diesen Erfolg kann Annas Galerie gut gebrauchen. Aufmerksam geht sie noch einmal durch die Räumlichkeiten, überprüft die letzten Details und zupft noch einmal hier an der Decke über einem Tisch und rückt dort noch einmal eine der leichten Sitzgelegenheiten zurecht.

Als Anna den unteren Saal betritt, kurz bevor die kleine Glocke über der Eingangstür ertönt, friert ihr Blick ein: das Gemälde, das die Mona Lisa in schrillbunten Farben nachempfinden soll, ist leer. Der dunkelbraune Hintergrund ist noch da, aber die Mona Lisa ist verschwunden. Wie angewurzelt steht Anna da und starrt auf das leere Gemälde. Als Klarissa, ihre Assistentin, sie leicht an der Schulter berührt, schreckt sie zusammen. Aber Klarissa geht es dann auch nicht besser als Anna, als sie feststellt, was fehlt. Wie kann denn ein Teil eines Gemäldes verschwinden? Ist es über Nacht übermalt worden? oder ausgetauscht worden? Was genau ist passiert? Anna und Klarissa sind vollkommen ahnungslos und völlig aufgelöst. Was ist nun zu tun?

Als die beiden hektisch durch die Galerie laufen und nach einer Lösung suchen fällt Anna ihr Traum wieder ein. Sie lässt sich auf eine der leichten Sitzgelegenheiten fallen, die durch ihre Luftfüllung hin- und herschwanken, wie Bambus im Wind. „Oh mein Gott“, stöhnt sie auf. Ist so etwas überhaupt möglich? Und was passiert nun mit der Ausstellung?

Ein markerschüttender Schrei hallt durch die Galerie. Anna fährt auf und fällt dabei fast von der wankenden Sitzgelegenheit. „Klarissa? Wo bist du? Was ist passiert?“ ruft sie. Stille. Eine beklemmende unheimliche Stille hüllt die Galerie ein und schnürt Anna die Kehle zu.

Mit zitternden Beinen geht sie durch die Galerie in die Richtung, aus der der Schrei gekommen ist. Langsam, es erscheint ihr wie eine festgefrorene Zeitlupe, öffnet sie die Tür des Büros – und erstarrt. Klarissa steht mit geweiteten Augen mitten im Raum, ihr Gesicht ist kreideweiß. Vor ihr der Grund des Schreckens: lebendig, schrillbunt und sehr sehr real die Mona Lisa, die aus ihrem Bilderrahmen geklettert zu sein scheint und aufgebracht auf Klarissa einredet. Auf italienisch.

„Per l’amor di Dio, wo bin ich? Sprecht doch endlich mit mir!“
Anna taumelt rückwärts. Unmöglich! Das kann einfach nicht sein! Ihre Knie werden weich und Übelkeit steigt in ihr auf. Wie von fern hört sie die Stimme der Mona Lisa, die sich nun an sie wendet. „Signorina! Bitte, sagen Sie mir, was hier vorgeht!“
Mit letzter Kraft ringt Anna nach Fassung. Die Ausstellung! Die Gäste! Wie sollte sie das nur erklären? Tausend Fragen rasten durch ihren Kopf, während sie der lebendig gewordenen Mona Lisa stumm gegenüberstand.

Annas Hände umklammern zitternd die Kaffeetasse, während sie einen tiefen Schluck nimmt. Die Ruhe nach dem Sturm ist beinahe noch beängstigender. Klarissa sitzt ihr gegenüber, noch immer kreidebleich und mit leerem Blick. Wie erstarrt starrt sie auf die dritte Gestalt am Tisch – die Mona Lisa höchstpersönlich, schrillbunt und sehr lebendig. Das bunte Gemälde des verrückten Künstlers scheint Gestalt angenommen zu haben, anders ist es nicht zu erklären – und wie kann man das überhaupt erklären?
„Erzählen Sie mir doch bitte einmal, wie ich hier herkomme“, fordert die Mona Lisa mit ihrer melodischen italienischen Stimme Anna auf. Ein Schauer läuft Anna bei diesem Klang über den Rücken. Sie räuspert sich. „Ich… ich weiß es nicht genau. Plötzlich standen Sie einfach mitten im Raum. Vom Rahmen gestiegen, wie durch ein Wunder, nehme ich an.“

Die Mona Lisa runzelt die Stirn. „Und was hat das zu bedeuten? Bin ich nun echt? Oder ist die Welt dort draußen nur eine Illusion? Was ist mit MEINER Welt, in der ich gerade noch gelebt habe? Wie komme ich zurück?“
Klarissa wirft Anna einen hilflosen Blick zu. Anna zuckt ratlos mit den Schultern. Wie soll man so etwas erklären? „Die Ausstellung!“, raunt Klarissa mit belegter Stimme. „Was machen wir mit den Gästen? Sie werden ausflippen, wenn sie die Mona Lisa leibhaftig sehen!“ Anna schließt für einen Moment die Augen. Die Situation kommt ihr mittlerweile selbst völlig surreal vor. Doch sie muss einen kühlen Kopf bewahren.
„Vielleicht… vielleicht ist es ja eine einmalige Chance?“, überlegt sie laut. „Die Menschen werden aus dem Staunen nicht mehr herauskommen!“

Die Mona Lisa mustert Anna mit einem undurchdringlichen Blick.
„Einmalige Chance? Für wen denn? Für mich oder für Sie?“
Anna schluckt hart. Die Frage trifft sie unerwartet. Natürlich geht es in erster Linie um die Galerie, die Ausstellung, die Gäste. Aber was ist mit der Mona Lisa selbst? Diesem plötzlich lebendig gewordenen Kunstwerk?
„Für uns alle“, erwidert Anna schließlich ausweichend, aber gleichzeitig auch fest entschlossen. „Es wäre eine Sensation ohnegleichen. Die Menschen werden Schlange stehen, um Sie zu sehen.“ „Ah, eine Attraktion also!“ Die Mona Lisa lacht bitter auf. „Soll ich mich hinter Glas stellen lassen und den Schaulustigen für ein paar Münzen zur Schau gestellt werden? „Klarissa sog scharf die Luft ein. Anna jedoch bleibt ruhig.
„Natürlich nicht. Es wäre eine Weltsensation, aber auf Augenhöhe. Eine Begegnung der besonderen Art. Wir könnten der Welt zeigen, dass Kunst lebendig sein kann. Und Sie, meine Liebe, sind das schönste und berühmteste Kunstwerk dieser Welt!“ Für einen langen Moment herrscht Stille am Tisch. Die Mona Lisa scheint die Worte sorgfältig abzuwägen. Schließlich nickt sie langsam.
„Einverstanden. Aber unter einer Bedingung: Ich will meine eigene Stimme haben. Ich will mich frei äußern können, wie die Menschen dieser Welt.“
Anna und Klarissa wechseln einen zögernden Blick. Was haben sie sich nur eingebrockt? Und wie…. ?? Doch letztlich gibt es keine andere Wahl – sie müssen dem Kunstwerk diese Freiheit zugestehen.
„Sehr gut“, stimmt Anna zu. „Sie sind ab heute ein freier Mensch. Und unsere Ausstellung wird zu einem Ereignis, das die Welt noch nie gesehen hat.“

Fast zufrieden, oder zumindest mit dem Gefühl, dass die Ausstellung doch noch irgendwie eröffnet werden kann, verlassen die drei Frauen die Küche und gehen nach oben. Mona Lisas verwirrende Farbwahl muss Anna ignorieren, damit sie sie nicht die ganze Zeit anstarrt. Und ein Teil ihres Gehirns kommt nicht mehr mit und ihr Kopf tut sehr weh, trotz des Espressos mit Zitrone.

Anna starrt mit geweiteten Augen auf die Szenerie, die sich vor ihr abspielt. Was zunächst wie ein Alptraum begonnen hat, scheint sich zu einem wahren Chaos biblischen Ausmaßes hier oben zu entwickeln. Nicht nur die Mona Lisa war lebendig geworden – sämtliche Kunstwerke der Ausstellung schienen sich aus ihren Rahmen befreit zu haben! Da traben die blaue Kühe durch die Galerie, ihre Hufe dröhnen laut auf dem Marmorboden und ihre Muh-Rufe lassen vermuten, dass sie hungrig sind. Ein Trupp zorniger Zwerge aus einem anderen Gemälde stürmen vorbei, wild gestikulierend und auf der Suche nach einem Garten zum Verwüsten.
„Mein Gott, was habt ihr getan?“, keuchte Mona Lisa und klammert sich an Annas Arm. Diese schüttelte nur fassungslos den Kopf. Plötzlich erklingt ein ohrenbetäubender Lärm – die Sonnenblumen sind aufgesprungen und zankten sich lautstark mit den Seerosen um den letzten Platz an der Vase. Daneben versucht eine Gruppe Bauern aus der „Bauernhochzeit“ die Ordnung wiederherzustellen, wird aber von einer Ladung Farbe getroffen, die Pollock von der Wand geschleudert hat.
Anna muss sich setzen, der Schwindel wird zu stark. Mit zusammengekniffenen Augen reibt sie ihre Schläfen. Wie soll sie dieser Anarchie nur Herr werden? Und das alles erklären? Die Ausstellung droht zum absoluten Desaster zu werden!
In diesem Moment ergreift die Mona Lisa das Wort. Mit einer energischen Geste bringt sie die wild gewordenen Kunstwerke zur Ruhe.
„Silenzio! So geht das nicht weiter. Wir müssen uns organisieren, sonst…“


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